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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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und nach Luft ringend. – Deine schmutzigen Vergleiche sind hier nicht angebracht! Dein Opa war ein Kommunist und wurde von Nazis umgebracht!
    Mit deiner Hilfe.
    Halt den Mund!, skandierte Ulf und schlug den Takt mit der Faust gegen die Tischplatte.
    Marius lief im Zimmer hin und her und beschimpfte Ulf wegen seiner angeblichen Kollaboration mit der Gestapo, seiner kriecherischen Haltung gegenüber dem verhassten DDR-Regime, und wegen seines Verrats an der kranken Ehefrau:
    Sie ist eine Heilige, sie verzeiht dir alles, sie war und ist viel zu gut für dich! – Marius wedelte so nah an Ulfs Gesicht mit dem Heft ‚Go West?‘, dass es beinahe auf seiner Backe landete.
    Raus hier!, sagte Ulf mit schwacher Stimme. – Verschwinde aus meinem Leben!
    Nach diesem Streit zog Marius zu Dora. Als am vierten November am Alex eine große Protestdemonstration stattfand, war Ulf in der sonntäglichen Redaktion fast allein. Er stand ganz oben und schaute auf den Platz hinunter: Langsam, aber beunruhigend entschlossen strömte das glühende Menschenmagma zum Alexanderplatz, aus der Karl-Liebknecht-Straße, der Rathausstraße, der Dircksenstraße, der Karl-Marx-Allee, der Hans-Beimler-Straße. Aus den U- und S-Bahn-Eingängen sickerte der Strom in Schüben, wie von einem gewaltigen Herz gepumpt. Die mit weißen Transparenten gepunktete graue Masse zog zur Kaaba der Weltuhr, und wogte – ein eingeengtes, gefährliches Gewässer.
    Ulf Seitz war immer wie alle gewesen, mitten in der Mehrheit. Jetzt war die Mehrheit anderswo. Eine Naturgewalt, angesichts derer wir nach unseren Nächsten tasten, um eng zusammenzurücken. Vater, Mutter und Sohn Seitz aber waren so weit wie nie voneinander entfernt.
    Abends saß er allein vor dem Fernseher, die Beiträge über die Demonstrationen waren einander in den westlichen und östlichen Nachrichten zum Verwechseln ähnlich. Als ob der Kalte Krieg auf Knopfdruck ausgeschaltet worden wäre. So leicht kann es also sein, warum dann diese Angst vor dem Ende? Die Menschen laufen, lächeln, schauen furchtlos in die Kameras. Eine Frau mit schickem Hut und braunem Mantel lacht in die Kamera, nähert sich einem Volkspolizisten, heftet ihm einen kleinen Papierzettel an die Brust und entfernt sich wieder. Der auf diese Weise ausgezeichnete Polizist schaut mit nach unten verdrehten Augen den Zettel an, als ob da eine Wespe sitzen würde. Die Frau winkt ihm noch und holt dann wieder ihre Mitstreiter ein. Sie macht große Schritte, die Flügel des braunen Mantels wehen auseinander und zeigen unter dem Rock ihre spitzen Knie. Es ist der gleiche Glockenrock mit den braunen und beigen Kugeln und Ringen, den Dora hat. Ulf erinnerte sich, wie glatt der synthetische Stoff zwischen den Fingern lag. Wenn seine Hände trocken und rau waren, konnte es geschehen, dass man beim Drüberstreichen Maschen zog. So wie bei den durchsichtigen Strümpfen, die Dora so liebte. Dieses leichte Aneinanderrascheln ihrer Beine. Ihr Spitzennachthemd quer übers Bett, dünne, schlappe Strümpfe auf der Stuhllehne, die Sohlen nach links gedreht, als ob sie gleich weglaufen würden. Ulf spürte schon damals, dass sie von einem anderen Mann bewundert wurde, stellte aber keine Fragen, um die Wahrheit nicht erfahren zu müssen. Er wollte nichts wissen, weil er sie festhalten wollte. Um jeden Preis. Nur festhalten, aber nicht bestrafen. Oder vielleicht doch?
    Den Heiligen Abend des Wendejahres feierten sie gemeinsam in Potsdam. Es gab einen Tannenbaum, Geschenktürme auf dem Sofatisch. Dora im Rollstuhl. Von Doras Mutter gebratene Ente. Warmes gelbes Licht im Wohnzimmer und Tannenharzgeruch.
    Dora hatte Ulf die ‚Kulturgeschichte Griechenlands. Leben und Legende der vorchristlichen Seele‘ geschenkt, von Egon Friedell, zwei Bände, und er hatte sich über das Geschenk gefreut und stellte sich vor, wie Doras Mutter in Westberlin überall nach dem Buch für ihn gesucht hat, obwohl sie ihn verachtet. Aber warum sollte sie ihn denn überhaupt verachten? Schließlich war sie auch nach dem Autounfall immer freundlich zu ihm gewesen, zu ihm, dem betrogenen Schwiegersohn. Vielleicht hat sie das Buch auch von ihrem Begrüßungsgeld gekauft. Friedell. Egon. Krenz. Grenz. Grenzregime. Mauertote – Ulf sah, wie sein Sohn redete. Er hatte Doras Lippen und auch den Spalt zwischen den großen Schneidezähnen – ein großer Junge, ein Mann. Neue Tribünen, neue Märtyrer. Neue Grenzen. Einigkeit und Recht und Freiheit. Freiheit, von der Dora keinen

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