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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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Glück, das mir zusteht. Dieser starke Sog. – Sie redete mit ruhiger, dünner Stimme, tupfte sich dabei aber andauernd die nassen, geröteten Augen. – Ich habe gelogen, nicht aus Lieblosigkeit, sondern weil ich mich von dir nicht losreißen konnte.
    Er schwieg eine Weile und schaute zum Fenster.
    Und ihn?
    Das ist etwas ganz anderes.
    Wie anders hast du ihn denn geliebt? Mehr?
    Liebe ist nicht wie eine Tüte Mehl. Wenn man da etwas ausschüttet, bleibt weniger drin.
    Und wenn er noch am Leben wäre? – Ulf stand an der Tür, mit dem Rücken zu Dora.
    Ich weiß es nicht.
    Wie soll ich mit diesem
Ich weiß es nicht
neben dir weiterleben?
    Sollst du nicht. Ich wollte sowieso zu meiner Mutter ziehen.
    Im frühen Sommer, als der Sohn aus Leningrad zurückkehrte, lebte Dora schon in Potsdam, was Marius sehr überraschte. Er hatte nichts von Doras Beziehung mit dem Kieferorthopäden gewusst.
    Willst du dich scheiden lassen? Wegen ihrer Behinderung?, war das Erste, was Marius fragte, als Ulf ihn am Ostbahnhof abholte.
    Nein, warum gleich scheiden lassen? Sie war einsam hier. Ich muss viel arbeiten, du bald auch. Und das Wochenende können wir zusammen verbringen.
    Sie packten die Koffer in Ulfs
Lada
und fuhren in die Wilhelm-Pieck-Straße.
    Marius zog bei ihm ein, seine Ankunft aber feierten sie in Potsdam. Doras Mutter bekochte und bediente sie, pendelte zwischen Küche und Stube und schaute besorgt in die Gesichter der beiden Männer, die links und rechts neben ihrer querschnittgelähmten Tochter saßen.
    Ein neues Zeitalter, das ganze Leningrad ist ein aufgewühlter Bienenstock. – Marius lief im Zimmer auf und ab wie ein Dorflehrer vor seinen braven Schülern. – Und hier ist alles so trist. Muffig. Vier Laternen für die ganze Wilhelm-Pieck-Straße. Dunkel und leer.
    Aber auch im dunklen Berlin wurde es immer unruhiger, es brodelte im alten Aluminiumkessel, der Deckel klapperte und klirrte, in der Redaktion herrschte andauernd Ausnahmezustand – selbst am Wochenende schaffte Ulf es nicht, nach Potsdam zu fahren – die Seitzens drifteten auseinander, als ob die unsichtbaren Tiefenströmungen die Stricke, die diese Familie zusammenhielten, strapazieren würden.
    Vor allem Ulfs Beziehung zum Sohn war angespannt wie nie zuvor.
    Bei Semesterbeginn stellte sich heraus, dass Marius seine Stelle nicht angetreten hatte. Stattdessen arbeitete er vorübergehend als Aushilfskraft in der Staatsbibliothek.
    Warum tust du das? Eine Sackgasse für deinen Lebenslauf, miserabler Lohn, wie willst du denn leben?
    Ich habe genug Geld.
    Weil du keine Miete zahlen musst, keine Verpflegung.
    Meinst du diese Stullen? – Marius schob den Teller vor sich weg und ließ laut das Messer aus der Hand fallen.
    Du weißt genau, dass ich das nicht meinte. Lass uns in Ruhe essen.
    Nach dem Abendbrot setzte sich Ulf an seinen Schreibtisch. Marius schulterte seine Tasche:
    Ich fahre nach Potsdam.
    Ist es nicht zu spät dafür?
    Ich kann auch da übernachten. Ich fahre mit dem Auto. Darf ich?
    Lieber nicht, ich brauche es morgen.
    Marius, der schon angezogen vor der Tür gestanden war, kehrte ins Zimmer zurück. Er legte den Autoschlüssel vor Ulf auf den Tisch und blieb stehen.
    Was gibt’s?, schaute ihn Ulf über seine Lesebrille an.
    Ich wollte dir nur sagen, dass ich meinen Namen auf so einem Blatt nicht haben wollen würde. – Marius zeigte auf das Heft ‚Go West?‘, das auf dem Regalbrett lag, und las daraus vor, das Gesicht spöttisch verzogen:
Diese Welt ist nicht leicht zu durchschauen. Zumal für jene, die glauben, Einäugigkeit verhelfe zu einem schärferen Blick. Für sie ist der Westen vor allem eine glitzernde Angelegenheit – das Werbefernsehen der BRD beweist es. Die ‚Sauber-wie-gewischt‘- oder ‚Sanso-weich‘-Mentalität schlägt manch einem aufs Gehirn, vor allem, wenn ihm hierzulande etliches nicht gefällt. Andere drängt die Lust auf Teneriffa, den neuesten Porsche und eine nebulöse ‚große Freiheit‘ dazu, dieses Land auf immer zu verlassen und auszureisen in den Westen, den goldenen. Wir interessierten uns, wie es ihnen geht, den ehemaligen DDR-Bürgern, die man drüben ‚Ost-Deutsche‘ oder ‚DDR-Türken‘ nennt. Sind sie angekommen in ihrem Paradies?
    Ulf schwieg.
    Für wen schreibst du das alles? Für die Menschen, die wie du jeden Tag Westfernsehen gucken?
    Was soll das, Marius! Dieser Spott? Ich habe nur meine Arbeit gemacht!
    Das haben die Nazis auch gesagt!
    Was erlaubst du dir?, rief Ulf zitternd

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