Berlin liegt im Osten (German Edition)
musst du als erster einen Schritt auf ihn zu machen, nach den richtigen Wörtern suchen. Liebe vor Recht! – Sie schaute zum Fenster und sagte dann sehr leise: Hast du jemals gedacht, dass es mir recht geschehen ist?
Meinst du den Unfall?, schnellte Ulf plötzlich hoch. – Ich habe so etwas keine einzige Sekunde gedacht!
Er bemühte sich sehr, aber es klang zu pathetisch und nicht glaubwürdig genug, denn tief in seinem Herzen war er der Gerechte, und sie, die Gefallene, lag ausgestreckt ihm zu Füßen. Gerötete Augen im grauen Gesicht, die zerschlissene Bibel auf dem Nachttisch. Unter dem Leichentuch ragte ein unschöner, knochiger Fuß hervor. Ulf zog die Decke darüber. Er wusste, dass seine Frau ihren trockenen, mitleiderregenden Körper vor fremden Blicken versteckt halten wollte. Fremde Blicke. Ihre weißen Beine, die niemand mehr bewundern und streicheln wird. Dieser andere Mann. Ulfs nachträgliche Eifersucht und ihr Leiden.
Im Mai 1991 starb Dora an einer Lungenentzündung. Der Vater und der Sohn standen vor dem frisch ausgehobenen Grab – einander in ihren schwarzen Anzügen zum Verwechseln ähnlich. Über die Beerdigungsangelegenheiten hinaus redeten sie kein Wort. Bald darauf zog Marius in eine kleine Wohnung in Kreuzberg, und die beiden sahen sich noch seltener. Als Ulf zum hundertsten Mal fragte, wie Marius sich seine berufliche Zukunft vorstelle, antwortete dieser spöttisch, er wäre am liebsten ein glücklicher Frührentner wie sein Vater.
Ulfs Leben hätte nun tatsächlich glücklich sein können. Er hatte eine gute Rente, Zeit, eine nette Frau an seiner Seite und Freiheit. Am Anfang des neuen Zeitalters fuhren er und Ingrid oft in Berlins Westen, als sie aber fast alle Museen abgegrast hatten, schrumpfte ihr Lebensrevier schnell wieder auf die ursprüngliche Größe zurück: Mitte, Unter den Linden, Konzerthaus, Museumsinsel – es war wohl zu spät, die Gewohnheiten zu revolutionieren. Essen gingen sie in Restaurants im und um das Nikolai-Viertel, wo das Ostberliner Bürgertum verkehrte: artig gekleidete Berliner in Sandbeige und Elefantengrau, die sich hier, unter ihresgleichen, ihrer Schattenlosigkeit nicht zu schämen brauchten. Eine aussterbende Spezies, sie waren die Alten geblieben, während sich die Stadt rasch änderte. Eigentlich wurde sie immer schöner, vor allem in Mitte: die Hackeschen Höfe, der Senefelder-Platz. Und sind natürlich viel gereist: Inzwischen waren sie in Paris, Rom, auf Kreta und auf Sizilien gewesen; und als sie Pompeji und Jerusalem sahen, freute sich Ulf wie ein Kind. Dann aber verging ihm die Lust aufs Reisen – plötzlich.
Es passierte, als sie auf dem Weg nach Bulgarien waren. Ingrid wollte antike Ausgrabungen in Varna besuchen, in der bulgarischen Stadt, wo Seitzens vor zwanzig Jahren ihren Sommerurlaub gemacht hatten – vor zwanzig, zweihundert, zweitausend? Schon als sie die Reise buchten, empfand er keine Vorfreude, im Gegenteil. Plötzlich spürte Ulf Abscheu vor fernen Orten, die auf ihn warteten, ihn aber nicht liebten und so schnell wie möglich wieder loswerden wollten. Er schaute aus dem Flugzeugfenster, und von der unheimlichen Leere unter seinen Füßen wurde ihm plötzlich übel. Und während der Reise betrachtete er in Varna nicht die antiken Ruinen, sondern starrte auf die schwarzen Fersen kleiner Bettler oder in den zahnlosen Mund eines angeketteten Bären, in dessen Augen der ganze Weltschmerz Platz fand.
Zur Entschuldigung nannte sich Ulf dann vor Ingrid hoffnungslos alt, und auf die nächste große Reise begab sie sich allein.
Die Zeit drehte sich nun in Kreisen, aus der immer enger werdenden Laufbahn konnte man nicht abspringen. Alles vorbei und alles umsonst. Abgeschlossener Bau. Man kann versuchen, die Fassade neu zu schmücken, an der Substanz aber war nichts mehr zu ändern. Und diese Substanz war morsch. War er der Architekt oder der ahnungslose Maurer? Die Zukunft schrumpfte, die Gegenwart schlich vorsichtig an ihm vorbei, die Vergangenheit war unanständig. Unanständig und grotesk wie die Nostalgie-Läden in den Karree-Passagen am Alexanderplatz, um die Ulf einen großen Bogen machte. Bulgarisches Letscho, ungarische Paprika, tschechische Oblaten und voluminöse ärmellose, deutsche Frauenkittel, giftig blau, klein geblümt – war das alles, was von der großen Utopie der Internationale übrig geblieben ist?
Manchmal beneidete er Menschen, die wie Dora ihren Halt im Glauben gefunden haben.
Leiser, bitte
, soll sie
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