Berlin liegt im Osten (German Edition)
Redaktionsgänge und waren sich selbst nicht im Klaren, ob die Röte ihrer Wangen dem Stress oder dem andauernd sich steigernden Gefühl der Scham entsprang.
Als Dora damals in der Charité lag, arbeitete Ulf an einer Beilage, in der die negativen Erfahrungen republikflüchtiger Bürger im Westen dargestellt werden sollten. ‚Go West?‘ hieß das dicke Heft. Die Redaktion glich einem Krisenstab damals, alle waren sehr wichtig, oder taten sehr wichtig, wie Kinder, wenn sie versuchen, die ernsten Tätigkeiten der Erwachsenen nachzuahmen. So gesehen war es verständlich, dass Ulf nicht lange an Doras Bett sitzen bleiben konnte.
Auch als Dora nach Hause gebracht wurde, sprachen die Eheleute kaum miteinander. Nur wenn der Sohn Marius für zwei Wochen aus Leningrad kam, herrschte ein (vorgetäuschtes) Tauwetter in der Wohnung, aber nach seiner Abreise blieb alles beim Alten: Er schlief auf dem Sofa und blieb keine Minute länger als nötig zu Hause, da er
tatsächlich
viel zu tun hatte. Er verließ die Redaktion oft als Letzter und lief sehr langsam nach Hause. Seine Frau mied er so, wie er früher seine kranke Mutter gemieden hatte, oft war er damals in die dunkle Stadt geflohen. Als ob der Tod unanständig oder ansteckend wäre.
Die Pflegerinnen, die an Doras Bett die Wache hielten, waren ihm gegenüber sehr nett und respektvoll, sie sahen in ihm einen betrogenen Ehemann, der dennoch fair und großzügig zu seiner gefallenen Frau war. Und Ulf war es tatsächlich, denn wenn er mit Dora allein blieb, mühte er sich gewissenhaft mit ihrem unglücklichen Körper. Aber auch dabei redeten sie kaum miteinander. Doras Mutter, die fast jeden Tag ihre Tochter besuchte, war auch nicht gesprächig, und in der Wohnung hing eine sachliche, trockene Stille. So vergingen die ersten Wochen, und alle schienen sich mit den neuen Umständen abgefunden haben, sogar Dora, die sich bald mit dem Rollstuhl durch die Wohnung bewegen konnte. Mehrmals war sie in Begleitung draußen in der Stadt und zeigte sich froh darüber. Als aber der Frühling anrückte und das Tageslicht zunahm, wurde Dora unruhig, wollte nicht mehr hinaus, blieb immer länger mit geschlossenen Augen im Bett liegen. Eines Morgens klopfte sie sehr laut mit dem Esslöffel auf das Metalltablett, und Ulf stürzte erschrocken von seinem Schreibtisch ins Schlafzimmer.
Was ist?
Ich kann das nicht mehr hören! – Dora lag im Bett, die Ohren mit den Handflächen verschlossen.
Was ist denn?
Die Fliege! Ich kann es nicht mehr hören!
Goldig grün, ein großer Brummer, warf sich die Fliege laut gegen das Fensterglas. Lange trickste sie Ulf mit ihren Manövern aus – flink, frech und unnachgiebig in ihrer Suche nach Fluchtwegen. Er öffnete das Fenster, und sie flog mürrisch summend davon. Ulf lehnte sich weiter aus dem Fenster. Die Spatzen tschilpten schrill, aufgebracht vom näher rückenden Frühling. Das Stück Straßenleben glänzte mit neuen Nuancen von Farben und Schatten, ein frisch restauriertes Bild im abgewetzten Fensterrahmen. Die schwarzen Baumzweige mit ihren ersten grünen Knospen, die das sichtbare Stück Himmel durchkreuzten, waren wie das Craquelé auf einer edlen arabischen Emaille – wie dunkel und trist das Zimmer war, als Ulf sich zu Doras Bett umdrehte!
Soll ich das Fenster offen lassen? – Als er das sagte, stieg ihm wieder der muffige Geruch entgegen, der sich so schnell im Zimmer eines kranken Menschen einnistet.
Nein, danke. Mach lieber das Fenster zu, bitte. Und schließ die Gardinen.
Wir könnten rausgehen.
Nein. Ich will nicht.
War das alles? – Ulf machte einen Schritt zur Tür.
Ja. Stell dir vor – es war alles. Alles mit mir. So schnell.
Warum war? Du hast Glück gehabt, du lebst.
Glück gehabt
, sprach sie ihm leise nach.
Ich meine, es hätte alles viel schlimmer ausgehen können.
Noch schlimmer? Ich dachte immer, so etwas geschieht nur in Frauenromanen.
Ich sage dir, Dora, es hätte schlimmer kommen können. – Als er dabei das Buch ‚Madame Bovary‘ bäuchlings auf dem Nachtisch liegen sah, wurde ihm sein trockener Ton peinlich. Er beugte sich zu Dora, streichelte ihren Oberarm: Wir kriegen es hin!
Jetzt, wo alles so ist, denke ich immer an die Jahre zurück, die wir gemeinsam erlebt haben, an den Zauber unseres damaligen einfachen und leichten Lebens.
Dora, ich nehme dir nichts übel. Lassen wir es.
Dann kam diese Zeit des Aufruhrs. Ich weiß nicht mehr, was das war. Diese Panik, dass ich etwas Wunderbares verpasse, ein
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