Berlin liegt im Osten (German Edition)
Gebrauch mehr machen konnte.
Was macht die Arbeit?
Nieder mit Ceausescu!
, oder wo seid ihr jetzt?, fiel Marius plötzlich in Ulfs Gedankenstrom ein.
Denk lieber an deine Zukunft und nicht an die von Ceausescu.
Es ist aber noch nicht lange her, dass du zu seinem Geburtstag einen schönen Essay geschrieben hast.
Frohe Weihnachten!, sagte Doras Mutter und schaute, als wollte sie jeden dafür um Einverständnis bitten, und schlug die Bibel auf.
Gegen zehn Uhr verabschiedete sich Ulf. Die anderen drei blieben da, und er fuhr zurück, in sein ödes, verlassenes Nest. Hat er seine Familie verlassen, hat sie ihn verlassen, haben sie alle sich gegenseitig fallen gelassen? Die Straße war leer. Klare, kalte Luft. Der schwarze, bestirnte Himmel, dicht über die Erde gewölbt, drückte auf seine Schultern.
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Die Schlagzeilen der nächsten Tage beschäftigten sich mit dem Sturz Ceausescus. Ulf konnte sich nicht vom Fernsehen losreißen. Die Anziehungskraft des Grauens. Wütende Menschenmengen, Hubschrauber, das verhaftete Ehepaar. Gerichtszimmer mit niedriger Decke, dünnbeinige Stühle, Tische, aufgestellt wie in einer Schulmensa: Die aufgebrachte Schüler-Horde hat die verhassten Lehrer gefangen genommen, Ehrfurcht und Zorn zugleich in den Augen der bösen Kinder.
Der Verbrecher – dunkler Anzug, heller Hemdkragen, Krawatte – sagt, er habe keine Konten in der Schweiz, und hält das Gericht für nicht legitim. Er wolle vor der Volksversammlung antworten. Er habe keine Konten in der Schweiz! Als das Urteil verkündet wird, fasst sich seine Frau ans geblümte Kopftuch, das unter dem Kinn gebunden ist, wie bei Bäuerinnen. Sie trägt einen zart beigen Mantel mit braunem Pelzkragen. Das Urteil lautet:
Erschießen. Unverzüglich
.
Die Soldaten mit den grünen Uniformen und den grünen Topfhelmen umstellen das Paar, mit schmutzigen Stricken binden sie beiden die Hände hinter den Rücken. Kinder, was tut ihr?, schreit die Frau.
Später eine satte Blutpfütze um Elenas Kopf. Ein Mann mit weißem Arztkittel reißt das Tuch von ihrem Gesicht, tastet an ihrem Hals nach dem Puls. Ein Uniformierter kommt dazu. Sie machen sich am Leichnam des Mannes, dessen Augen weit geöffnet sind, zu schaffen. Sie heben den Kopf hoch und lassen ihn wieder fallen, er schlägt am Steinboden auf.
Den Papierstapel mit
DPA
-Meldungen zum Tod des Diktators legte Ulf auf den Tisch seines Kollegen und ging nach Hause, weil er sich krank fühlte.
Die Verhandlungen über die Entlassungskonditionen waren fast abgeschlossen, jeden Tag hieß es, dass der Tag der Kündigung bald bekannt gegeben werde. Es gab viele neue Mitarbeiter, die morschen Bretter des Bootes wurden fast zur Hälfte ausgetauscht. Als Ulf sich wünschte, diese Übergangszeit in Krankheit zu durchdämmern, ging sein Wunsch in Erfüllung: Kaum aus dem Büro zu Hause angekommen, spürte er Hals- und Gliederschmerzen. Als er einschlief, hatte er Fieber, und die ganze Nacht kreiste sein Geist über dem Hof mit dem blutüberströmten Kopfsteinpflaster. Am nächsten Morgen war auch seine Stimme weg.
Es war eine heftige Grippe, die auch noch über Silvester anhielt. Ingrid, seine jüngere Kollegin, mit der er seit einigen Monaten eine Beziehung hatte, pflegte ihn diese ganzen drei Wochen, dann zog sie in der Wilhelm-Pieck-Straße ein. Sie konnte ihre Stelle behalten, und Ulf wurde zum Frühlingsbeginn Frührentner. An den Wochenenden fuhren sie nach Hamburg oder München, zu Ostern nach Rom.
Vor Dora verheimlichte er seine neue Beziehung nicht, sie zeigte diesbezüglich auch keinen Unmut und sagte, dass er auch die Scheidung beantragen könne, wenn er wolle. Sonst waren sie nett zueinander, wie alte Schulfreunde, ihre Gespräche waren einfach und friedlich. Zum Streit kam es nur, wenn sie über Marius redeten.
Aber warum, warum kümmert er sich nicht um eine anständige Karriere?
Es ist nicht seine Schuld, dass er das Falsche studiert hat!
Er hat seine Stelle an der Uni gar nicht angetreten!
Es ist nicht das Land, das er als Kind verlassen hat. Seine Stadt, sein Elternhaus – alles ist weg. Er muss mit allem neu anfangen, dafür braucht er Zeit und unsere Hilfe.
Wir Kriegskinder hatten es noch schwerer! Uns hat keiner geholfen, und wir sind alle anständige Menschen geworden!
Wir reden nicht über dich, Ulf!
Ich habe keinen Draht mehr zu ihm, seine Andeutungen, sein Spott – diese Respektlosigkeit –, ist das mir gegenüber gerecht?
Auch wenn du dich ungerecht behandelt fühlst,
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