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Berlin liegt im Osten (German Edition)

Berlin liegt im Osten (German Edition)

Titel: Berlin liegt im Osten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nellja Veremej
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große und blank geputzte Augen dieser Stadt.
    Morgen werde ich Ulfs Wohnung für seine baldige Entlassung vorbereiten und uns einen Tannenbaum kaufen. Und dann warten wir zusammen auf Ostern, und dann wieder auf Weihnachten. Ich betaste seinen Schlüsselbund in meiner Tasche und schaue wieder zu den toten Fenstern hinauf. Die Haustür ist offen, ich gehe hinein. Es ist dunkel, meine Füße aber kennen den Weg – es sind neunundzwanzig Stufen nach oben. Das Schloss geht auf, ich greife nach dem Lichtschalter, laufe ins Wohnzimmer. Alles sieht fast unverändert aus, die Möbel sind da, aber auch dieses klägliche Echo, das sich in den verlassenen Räumen unverzüglich breitmacht.
    Meine Schritte sind sehr laut – in der Leere, die sich in den Schränken und Regalen schon eingenistet hat, hallen sie wider. Das Zwischenstockregal ist auch ausgeräumt. Die Leiter mitten im Zimmer, ein triumphierender Eiffelturm. Im dritten, kaum bewohnten Zimmer weidet eine Herde grauer Kartonkisten, alle noch offen – die Krankheit hat Ulf erwischt, als er sich endlich anschickte, die Wohnung
auszumisten
, wie er sagte.
    Vor allem die sterile Küche, wo es keinen Krümel Essen gibt, wirkt entsetzlich öde. Der Kühlschrank ist ausgeschaltet – leer und offen, strahlt er die Faszination eines prähistorischen Wesens aus. Ich kehre ins Zimmer zurück, lade die Mandarinen auf dem weiß bedeckten runden Tisch aus und gehe noch einmal durch die Wohnung.
    Die Wände, mit blassen Vierecken des Nichtseins markiert, sehen traurig aus. Diese Wände, die ihm, einem Weichtier, Gestalt, Schutz und Halt geboten haben. Ähnlich wie ein eng anliegender Panzer die Konturen des Bewohners noch nachahmt und festhält, wenn er weg ist.
    Streng genommen ist die Wohnung nicht leer: Seine Kleider und Schuhe, die durchsichtige Uhr, der Kaiser Wilhelm, alle Bücher sind da. Aber auch die übrig gebliebenen Gegenstände wirken fluchtbereit und strahlen ängstliche Unruhe aus.
    Dora
lese ich auf einer großen Kiste, die nicht zugeklappt ist. Ganz oben ein rutschiger Stapel ungeöffneter Packungen mit Nylondamenstrümpfen. Darunter ein Glockenrock aus synthetischem Trikotstoff, gemustert mit beigen und braunen Kugeln und Ringen, saturnartig ineinandergeschoben. Die Bibel – vergriffene Seitenecken, Doras Mädchenname auf dem Vorsatz, rotes Lesezeichen im Seitenscheitel, rot unterstrichene Zeilen:
Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. Als er das noch bedachte, siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen
.
    Ich wundere mich, dass ich diese Stelle nicht früher gekannt habe. Ich kannte eine andere Geschichte, mit einem malerischen Stern am dunklen Himmel, mit süßen Tieren im Stall, mit bunt gekleideten, großzügigen Königen. Jetzt kommt es mir vor, als wäre das im Stall nur noch ein Nachwort. Dass das eigentliche Weihnachtswunder sich noch vor unserer Zeitrechnung ereignete – das Wunder der Gnade, das im Herzen von Josef geschah und seine verirrte, untreue Braut vor der Steinigung und dem Pranger rettete.
    Als Dora dort lag, kam Ulf jeden Tag in die Charité, saß eine kurze Weile da, wechselte ein paar Worte mit seiner Frau, redete mit ihrer Mutter und ging zur Arbeit. Genauer gesagt: er floh. Und niemand nahm es ihm übel, das spürte er. Da die Umstände des Unfalls nicht zu verheimlichen waren, galten die mitleidigen Blicke der Schwestern sogar eher ihm als Dora. Und er hatte in der Tat viel Arbeit, da er kurz vor Doras Unglück zum stellvertretenden Chefredakteur befördert worden war.
    Eine wie entzündete, widersprüchliche Zeit: Der Staat fieberte, die Bürger strömten gen Westen, Dora lag querschnittgelähmt im Bett, Ulf aber fühlte sich stark wie nie.
    Der plötzliche Sprung in der Karriere beflügelte ihn, obgleich er wusste, dass die Beförderung zum Bootsmann eines sinkenden Schiffs nur triste Perspektiven haben könne. Früher hatte er im Ressort ‚Stadt und Alltag‘ gearbeitet, jetzt musste er sich hauptsächlich mit ideologischen Fragen befassen. Die politische Lage wurde von Tag zu Tag immer verworrener, die Aufgaben immer komplizierter. Sie liefen mit geröteten Wangen durch die

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