Berlin Wolfsburg (German Edition)
ich niemals beweisen
können. Sie war plötzlich völlig erschöpft. Ihr Herz flatterte. Abrupt stand
sie auf und sah Mareni an. »Reden Sie noch mal mit ihr. Ich brauche eine
Pause.«
15
Sie war bestens informiert und hatte sowohl Phantasie als
auch den Mut, ihr freien Lauf zu lassen. Das hatten die wenigsten, und
ausgerechnet bei einer Kommissarin hatte Sarah ihn am allerwenigsten erwartet.
Sie war aufgewühlt und heilfroh, als Johanna Krass schließlich den
Vernehmungsraum verließ.
Alles war folgerichtig gewesen. Daran zweifelte sie nach wie vor
nicht im mindesten, obwohl sie kaum damit gerechnet hatte, dass die Polizei ihr
derart dicht auf die Pelle rücken würde, noch dazu in Gestalt einer
Kommissarin, die auf der richtigen Spur war und sich nicht beirren ließ. Aber
die Beweise fehlten und damit jede Handhabe. So war dieses System nun einmal
aufgebaut: Ohne Beweise keine polizeiliche Zugriffsmöglichkeit. Und häufig
reichten die nicht einmal aus, die miesesten Typen lange genug hinter Gitter zu
bringen.
Großvaters Tod hatte sein müssen, das hatte sie gespürt. Wie hatte
die Kommissarin so schön gesagt: dem Tod eine Chance geben, sein Werk zu tun.
Ja, so war es. Sie war eine Dienerin des Todes, des gerechten Todes. Der
Luftballon war ihr quasi unter den Händen explodiert, und Großmutter hatte
geweint vor Glück. Keine Schläge mehr, kein Schreien und kein Treten in den
Unterleib. Von heute auf morgen hatte Frieden geherrscht. Mit Hilfe eines roten
Luftballons. Wie einfach das Leben doch sein konnte, wenn man bereit war, den
Tod walten zu lassen.
Die Wespen waren ins Marmeladenglas geklettert. Drei Stück. Für
jedes Kind eine. Monika Berthan hatte jedes ihrer Kinder über Jahre hinweg
misshandelt, und niemand war in der Lage gewesen, sie langfristig zu stoppen.
Drei, vier Wochen war es mal ruhiger zugegangen, nachdem das Jugendamt
eingeschritten war oder der Mann ihr fürchterlich gedroht hatte. Dann war sie
in ihr altes Muster zurückgefallen und hatte die Ruten herausgeholt. Sarah
hatte das Glas mit den Wespen zwei Tage später in den Keller gestellt, als
Nachbarin Berthan große Wäsche gehabt hatte und niemand sonst im Haus gewesen
war. Keiner hatte sie gesehen oder gehört. Es war heiß gewesen. Der Tod war
schnell gekommen. Schneller, als sie es verdient hatte.
Nein, Bäumer war nicht der Nächste gewesen, sondern einige Jahre
zuvor eine junge Frau, die eine Katze ertränkt hatte. Einfach so. Sarah hatte
es zufällig mitbekommen, obwohl sie an Zufälle schon lange nicht mehr glaubte.
Tina war im gleichen Haus in die gerade frei gewordene Wohnung unterm Dach
gezogen, wo noch die Katze des Vormieters lebte – der hatte sie einfach
zurückgelassen. Vielleicht hatte sie auch keine Lust gehabt, noch einmal
umzuziehen. Das Tier war schon alt gewesen und hatte sich immer wieder in die
Wohnung geschlichen. Sarah hatte sie eines Tages leblos im Hinterhof gefunden –
pitschnass. An ihren Pfoten klebten Tapetenreste, die aus Tinas Wohnung
stammten, wie Sarah feststellte. Tina stritt ab, dem Tier etwas getan zu haben,
aber die Verunsicherung war über ihr Gesicht gekrochen, als Sarah sie darauf
ansprach, und die Schuld machte sich breit wie eine dunkle Wolke. Es war wie
immer – Sarah spürte das Böse und wusste, was sie zu tun hatte. Zwei Wochen
später stürzte Tina im dichten Gedränge am Bahnsteig vor eine S-Bahn. Sie war
auf der Stelle tot.
Bäumer hatte zwei Frauen bei Komfortbau vergewaltigt, ohne dass ihm
irgendetwas nachgewiesen werden konnte. Er war jähzornig, gemein und brutal. Er
hatte sturzbesoffen im Gebüsch gelegen, und es war ein Leichtes gewesen, ihn
zwei Meter näher ans Wasser zu bugsieren.
Roberts Leid war unfassbar groß, sein Ringen mit sich selbst auch.
Eines Tages stand er vor ihr, und Sarah hatte sofort gespürt, dass er sie
erkannt hatte. Sie und ihr Tun. Erste vage Ahnungen hatte er während der
Vernehmung im Bäumer-Fall noch beiseitegeschoben, um sich später aber dennoch
an sie zu erinnern. Er war der erste Mensch, dem sie sich anvertraute. Sich und
ihre Aufgabe. Die Begegnung mit ihm war genauso folgerichtig wie der rote
Luftballon, wie die Wespen, die ins Glas krabbelten, wie die S-Bahn, die Tina
überrollte. Sie brauchten einander, um dem Tod zu helfen, ein Mindestmaß an
Gerechtigkeit wiederherzustellen.
In der Regel hatte sie einige Tage in der Nähe ihres jeweiligen
Opfers verbracht, um sich mit Routinen und Abläufen vertraut zu machen,
Tuchfühlung
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