Berliner Aufklaerung - Roman
Kloppenbrink, aber ich kann Sie davor warnen, eine wertvolle Chance in Ihrem Leben verstreichen zu lassen. Wenn Sie wieder mit sich ins Gleichgewicht kommen wollen, müssen Sie lernen, Ihre Sexualität zu akzeptieren. Unterdrückte Natur rächt sich.«
Die letzten Sätze katapultierten Frau Kloppenbrink
aus ihrem Sessel, mit der einen Hand preßte sie das zerfaserte Papiertaschentuch an ihren Mund, mit der anderen umklammerte sie die dunkelblaue Handtasche. Ihrer Kehle entrang sich ein letztes, leises Schluchzen, dann floh sie aus der Praxis hinaus.
Anja mußte zugeben, daß die »diskursive Verflüssigung der Lebensprobleme« in diesem Falle mehr verflüssigt hatte als beabsichtigt.
Da sie nun nichts Besseres mehr zu tun hatte, begann Anja, ihren Schreibtisch aufzuräumen und Post zu erledigen. Ihre Pumps kickte sie in eine Ecke, die Fensterglasbrille legte sie etwas behutsamer ab. Über den noch nicht bezahlten Rechnungen ihrer letzten Kundin versank sie ins Grübeln. Ohne es zu merken, starrte sie zum Fenster hinaus. Eine speckige Hand mit Goldring. Ein schwarz umhüllter Frauenrücken im Gegenlicht. Ein dunkelblaues Armani-Kostüm, hastig auf den Fußboden hinabgeglitten. Eine Strumpfhose, in die die Lust ihre Löcher gerissen hatte. Hektor im Pfandhaus. Die Prince Denmark, die sich Anja angezündet hatte, verqualmte sinnlos im marmornen Aschenbecher.
Als sie aus ihren konturlosen Gedanken wieder aufwachte, war es finster geworden. Auf der Straße und im gegenüberliegenden Haus waren Lichter angegangen, im dritten Stock saß eine Familie beim Abendessen. Anja fand, daß die Winterzeit eine dumme Einrichtung war.
Sie knipste die Schreibtischlampe an und klappte die Kundenakte zu. Ihr Instinkt sagte ihr, daß dies die letzten Rechnungen waren, die sie auf den Namen »Hildegard Kloppenbrink« ausgestellt hatte.
Eigentlich klang der Sachverhalt, daß der erste Orgasmus einer Frau die Arbeitslosigkeit einer anderen auslöst, wie aus einem Lehrbuch der Chaostheorie und nicht wie aus dem richtigen Leben.
DIE TRÄNEN DES EROS
Als Anja ihre Wohnungstür aufschloß, schlugen ihr beißende Rauchschwaden entgegen. Sie kämpfte sich durch den Flur in Richtung Küche. Es war doch immer dasselbe. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, woher sie die Gutmütigkeit nahm, mit diesem schwulen Tolpatsch zusammenzuwohnen. Es verging keine Woche, in der nicht mindestens einmal die Badewanne überlief und der Wasserkessel durchglühte.
Der Junge aus Darmstadt war wie alle westdeutschen Provinzler vom Leben in Berlin notorisch überfordert. Wäre er in seinem hessischen Dorf geblieben, wäre ihm und Anja sicher vieles erspart geblieben. Aber nein, Berlin, Berlin mußte es sein. Vor nunmehr zwei Jahren hatte er blauäugig, mit blonder Fönwelle und übertrieben tuntig vor Anjas Wohnungstür gestanden und gefragt, ob das in der Zitty angebotene Zimmer noch zu haben sei. Anja hatte schwesterliches Mitleid mit dem höchstens zwanzigjährigen Kerlchen aus dem Hessenland empfunden, das sich so redlich Mühe gab, wie ein echter Schwuler auszusehen. So war Ulf in Anjas Wohnung eingezogen.
Anja war nicht zimperlich, was Wohnen anbelangte, sie hatte schon in abgefuckteren Neuköllnwohnungen zufrieden gelebt. Aber gewisse Minimalforderungen an die Lebensqualität ihres Haushalts stellte sie doch. Kaum noch zu identifizierende, in schwarzer Kruste am Topfboden klebende Dosenravioli verletzten diese
Minimalforderungen eindeutig. Wenigstens war es diesmal kein Dildo, den Ulf zum Anwärmen in den Backofen gelegt und dann vergessen hatte.
Anja beförderte den glühenden Kochtopf zur Abkühlung in die volle Badewanne, die ebenfalls mit Ulf eingezogen war und aus Platzgründen neben dem Herd stand. Ulf behauptete, ohne sie nicht leben zu können. Da im eigentlichen Bad – der umgebauten Speisekammer – beim besten Willen keine Wanne mehr unterzubringen gewesen war, hatte Ulf dieses monströse Stück mit Löwenfüßen in der Küche installiert. Seitdem Anja von ihm die schriftliche Garantie erhalten hatte, daß er die Wanne jenseits der jede Woche neu festzulegenden Zeiten weder allein noch zu mehreren nutzen werde, tolerierte sie seinen Badetick.
Lobend mußte sie anerkennen, daß er heute wenigstens das Wasser vor dem Überlaufen abgestellt hatte. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren. »Ulf! Komm mal her!« Anjas Bariton erfüllte die Wohnung.
Aufgelöst und mit tränenüberströmtem Gesicht erschien der Pechvogel in der
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