Berndorf 07 - Trotzkis Narr
angestrengt. Die Rede – frei vorgetragen. Locker und gewandt. Sehr dezentes Make-up. Die Frisur? Die Dame hat einen erstklassigen Coiffeur – man sieht nicht, dass sie bei ihm war! Gottlob kein Hosenanzug, sondern ein dunkles Kostüm. Also? Ein Beispiel dafür, wie frau aussehen und auftreten kann, wenn frau nicht mehr jung ist?
DWK , wie die Boulevardpresse sie nennt, wenn zur Abwechslung mal nicht von der »Staatsanwältin Gnadenlos« die Rede sein soll – DWK also wendet sich zu dem Transparent, das hinter ihr die Rückwand des Ballsaals im Brandenburg Residence Hotel ausfüllt, und weist mit einer dramatischen und zugleich anmutigen Geste hoch zu dem Slogan, der in preussisch blauer Helvetica-Schrift auf silbernem Untergrund strahlt. »Eine Stadt steht auf«, liest sie vor und reißt spielerisch die geballte Faust hoch, um das auf zu unterstreichen, »das ist gewiss ein schönes Motto, ermutigend und aufrüttelnd, aber das Schicksal einer Stadt hängt nicht von einer kollektiven Aufwallung ab, sondern vom verantwortungsbewussten Handeln jedes einzelnen Bürgers …«
Nein, denkt Karen, solche Sätze würde sie bei Gott nicht in den Mund nehmen wollen. Zu keiner Zeit. Sie schaut zur Seite, zu ihrem Mann, aber Stefan hat dieses höfliche, aufmerksame Gesicht aufgesetzt, das sie von ihm kennt, wenn sie in Gesellschaft sind, und von dem sie nicht weiß, was sie davon halten soll … Sie unterdrückt ein Lächeln und sieht sich im Saal um.
Wie würde sie beschreiben, was sie sieht? Viel blondgelocktes Haar über starren, gelifteten Masken. Gelhaarfrisuren zu Dreitagebärten und Nadelstreifenanzügen. Die ewig Neunundvierzigjährigen, vom Golf-Training in Form gehalten und bei Bedarf vom Viagra. Herrenmenschengesichter mit den Kerben darin, die man nicht einmal dann bekommt, wenn man kopfüber durch die Windschutzscheibe fliegt …
»Lassen Sie mich jetzt einmal – und lachen Sie bitte nicht – von China sprechen«, sagt Dagmar Wohlfrom-Kühn über das Mikrofon gebeugt und eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger hochhaltend, »in China ist dieser Tage eine neue Eisenbahnlinie in Betrieb genommen worden, eine Hochgeschwindigkeitsstrecke über zweitausenddreihundert Kilometer, von Beijing nach … das kann ich gar nicht aussprechen wohin, die Fertigstellung dieser Bahnstrecke hat einen unvergleichbar größeren Arbeitsaufwand erfordert als der Bau des neuen Berliner Flughafens, mit unvorstellbar größeren geologischen und technischen Schwierigkeiten. Dennoch ist dieses Projekt fristgerecht fertiggestellt worden, und selbstverständlich verkehren auch die Züge darauf fristgerecht. Wann bitte, meine Damen und Herren, sind Sie zum letzten Mal in einem Zug der Deutschen Bahn gesessen, der fahrplanmäßig gefahren wäre? Und wann, bitte, wird wohl der Berliner Flughafen fertig sein und zu welchen Kosten? Doch diese Frage wird Ihnen und mir niemand beantworten, denn dieser Senat hat zu nichts und nirgends einen Überblick mehr und weiß vermutlich nicht einmal, wie viele Milliarden man bereits im brandenburgischen Sand verbuddelt hat …«
Beifall rauscht auf. Karen spürt einen Blick. Jemand beobachtet sie beim Beobachten. Unwillkürlich wendet sie den Kopf und sieht Carsten Stukkart in der Reihe hinter ihr drei oder vier Sitze weiter, noch im Sitzen hochragend, im Halbdunkel des Zuhörerraums glitzert belustigtes Funkeln unter den buschigen Augenbrauen. Sie antwortet mit einem Augenaufschlag und einem Lächeln, wendet den Kopf dann aber wieder ab und der Rednerin zu.
»Vielleicht beginnen wir damit, dass wir uns daran erinnern, was früher einmal möglich war«, fährt die Rednerin fort und hebt beschwörend die rechte Hand, »zum Beispiel in den Hungermonaten der Blockade 1948/49, da ist binnen weniger Monate der Flugplatz Tegel hergerichtet und in Betrieb genommen worden. Warum achten wir nicht darauf, was die alten Berlinerinnen und Berliner uns zu sagen haben?«
L utz Harlass verlässt die U-Bahn an der Station Onkel Toms Hütte, bleibt dann aber für einen Augenblick im Halbdunkel des Ausgangs stehen, neben den Läden, die längst geschlossen haben, und wirft einen Blick auf das Display seines Handys. Es ist noch nicht ganz 21.35 Uhr.
»Punkt 21.35 Uhr stehst du am Straßenrand«, hatte ihm Dolf ausgerichtet. »Keine Sekunde davor, keine danach.«
Es ist merkwürdig, wie lang eine Minute werden kann. Manchmal hatten sie in der Schule ausprobiert, wie lang einer die Luft anhalten kann. Eine halbe Minute
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