Berndorf 07 - Trotzkis Narr
vorbeieilen, denn dies hier ist Berlin, dies hier ist eine Stadt, in der man nicht viel Zeit hat, niemand flaniert hier, hat das noch nie getan, wo kämen wir da hin! Wer langsam geht oder wessen Blick nicht gleichgültig über die anderen gleitet, sondern sich festhalten lässt, der lockt nur Bettler und Taschendiebe an oder Leute, die eine Petition gegen das Schmelzen der Eisberge unterschrieben haben wollen. Kaum jemand bleibt vor einem Schaufenster stehen, höchstens dass eine Frau an den Auslagen einer Boutique innehält, sich ein Ausstellungsstück genauer ansieht oder es prüfend hochhebt, um es alsbald wieder zurückzulegen.
Vor allem aber sieht niemand so aus, als würde er sich jemals einen Tiroler Gebirgsschützenhut aufsetzen oder ein Dirndl mit karmesinroter Schürze anziehen. Die Menschen sind grau oder schwarz gekleidet, das gehört zu den Farben dieser Stadt, auch wenn zwischendurch mal eine Erich-Honecker-Gedächtnis-Windbluse für ein wenig grau-beige Aufhellung sorgt.
Karen geht weiter, ihren leichten hellen Mantel in der schmalen Taille zusammengebunden, den Kragen im Nacken gegen den böigen Wind hochgeschlagen. Sie hat sich entschieden, die Reportage über den »Dresscode Landhaus« nicht zu schreiben. Sie kann nichts darüber schreiben, was erhellend wäre oder auch nur lustig. Und wieso sollen Berliner Männer in Lederhosen lächerlicher sein als bayerische? Oder als die angejahrten, angeblich intellektuellen Jeans-Träger, denen die Wampe über den Hosenbund hängt? Was ist an einem Dirndl-Dekolleté alberner als am Dekolleté einer Bayreuth-Besucherin?
Sie biegt ab zum Deutschen Theater, denn sie will Karten für »Amphitryon 2013« besorgen, sie muss ein wenig warten, eine von diesen silberhaarigen Damen kann sich lang nicht entscheiden, wann sie eigentlich welches Stück anschauen will. Dann bekommt Karen doch für Montag zwei Karten in der fünften Reihe. Sie verlässt das Theater, wohin jetzt? Sie hat es nicht eilig, sie mag ein wenig bummeln. Als sie an einem italienischen Schuhgeschäft vorbeikommt, bleibt sie stehen, diesmal nicht aus beruflichem, sondern aus privatem Interesse, stellt aber rasch und wieder einmal fest, dass alle diese hübschen stöckeligen Nichtigkeiten nichts für ihre Füße sind, die ausschreiten wollen und laufen. An einer Fußgängerampel wartet sie auf die Grünphase und blickt sich kurz um, weiter hinten ist schon wieder einer in dieser grau-beigen Windbluse, vielleicht ist es derselbe wie vorhin. Warum auch sollen die Leute keine Windbluse tragen, wenn es ihnen gefällt? Oder Trachtenjanker?
Die Ampel gibt den Weg frei, und sie überquert die Straße. Sie hätte Lust auf einen Espresso in einer ruhigen kleinen Café-Bar, auf einen Augenblick des Nachdenkens, des Nachdenkens worüber? Über das Schreiben oder vielmehr: über die Unmöglichkeit des Schreibens, denn sie hat das Gefühl – und nicht erst seit dem Gespräch mit Pfauth –, dass ihr das Schreiben und Benennen von Mal zu Mal, von Versuch zu Versuch fremder und vergeblicher wird. Erst jetzt bemerkt sie, dass sie die Richtung zu einem Szene-Café eingeschlagen hat, die Leute dort kann sie heute nun aber gar nicht ertragen, abrupt dreht sie sich um und geht den Weg zurück, ein gutes Stück weiter oberhalb in der Friedrichstraße gibt es ein Café, wie sie es mag und in dem keiner der Gäste im Verdacht steht, wichtig zu sein. Plötzlich hat sie wieder die grau-beige Windbluse vor sich, deren Träger aber eilends in eine Seitenstraße abbiegt, es ist ein Mensch mit zu langem und nach hinten gekämmtem dunklen Haar und einem irgendwie kinnlosen Profil … ein Stalker?
An der Einmündung einer von Arkaden gesäumten Seitenstraße bleibt Karen kurz stehen, als sei sie sich über ihren weiteren Weg unschlüssig. Einige Meter links von ihr hat ein ziegenbärtiger Straßenmusiker Aufstellung genommen, den Filzhut mit der Krempe nach oben auf den Gehsteig vor sich gelegt, und fiedelt etwas, das nach Boccherini klingt. Vielleicht tut er auch nur so, und die Musik kommt aus dem Recorder. Karen stellt sich an den Arkadenbogen ihm gegenüber, so dass sie niemand im Wege ist, und hört zu, vielleicht für die Dauer von ein paar Takten, nicht viel länger …
Dam dadi da dam/
Di da di da dam …
… und sucht dabei aus ihrem Portemonnaie eine Münze heraus. Schließlich tritt sie zu dem Musiker und wirft die Münze nicht, sondern legt sie ihm in den Hut; dazu muss sie sich bücken und gleichzeitig ein
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