Bernstein-Connection - Klausner, U: Bernstein-Connection
Friesenstraße | 08.45 h
»Ist ja gut, Molli«, beschwichtigte Sydow seine tränenüberströmte Sekretärin, für die anscheinend gerade eine Welt zusammenbrach. »War nicht so gemeint.« Das hatte er nicht gewollt, obwohl er eine Stinkwut auf sie gehabt hatte. Der Artikel in der Morgenpost war das Letzte, was er zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebrauchen konnte, aber da das Kind nun mal in den Brunnen gefallen war, hätte er sich seinen Temperamentsausbruch ebenso gut sparen können.
Doch so leicht wie erhofft ließ sich die unverheiratete, reservierte und eher zugeknöpft wirkende Charlottenburgerin nicht beruhigen. »Was hätte ich denn tun sollen!«, schniefte sie und zückte ein Spitzentaschentuch aus Batist, auf dem ihre Initialen eingestickt waren. Eine Szene wie aus einem Courths-Mahler-Roman, und wenn Sydow ehrlich war, sah Annerose Mollig auch wie einer der dienstbaren Geister ihrer Lieblingsautorin aus. Gerade einmal 30, war ihr Haar stets streng gescheitelt, und die Kleidung, die sie trug, schien der aktuellen Mode bewusst zu trotzen. Gestärkte Bluse, Stehkragen und Perlenkette, den langen grauen Rock als obligatorische Zugabe. Eine Gouvernante wie aus dem Bilderbuch. »Herr Peters hat nach Ihnen gefragt, mir kurz gesagt, worum es geht, und circa fünf Minuten später hat Herr Vanselow von der Morgen…«
»Der schöne Theodor – ich hab’s geahnt!«, stöhnte Sydow und rollte mit den Augen. »Wie oft habe ich Ihnen eigentlich schon … Und was wollte er von Ihnen wissen?«
Die Sekretärin, deren fragiler Körperbau in krassem Widerspruch zu ihrem Familiennamen stand, schnäuzte laut und vernehmlich in ihr Taschentuch und ließ es nach diesem akustischen Crescendo wieder in ihrem dunkelgrauen Lederhandtäschchen verschwinden. »Was es denn so Neues gibt, hat er mich gefragt.«
Eine original Berliner Verwünschung auf den Lippen, konnte sich Sydow gerade noch bremsen. Nach dem gramzerfurchten Antlitz seiner Sekretärin zu schließen, die sich hinter ihre Schreibmaschine geflüchtet hatte, wäre das auch nicht unbedingt ratsam gewesen. »Eine ganze Menge, fürchte ich«, murmelte er stattdessen halblaut vor sich hin, gähnte und rieb die übernächtigten Augen. Er hatte die letzte Nacht kein Auge zugetan, und alles deutete darauf hin, dass sein Schlafdefizit weiter anwachsen würde. »Eine ganze Menge.«
»Kopf hoch, Herr Kommissar!«, munterte ihn die stets um sein Wohl besorgte Vorzimmerdame auf, öffnete ihre Thermoskanne und goss ihm eine Tasse Bohnenkaffee ein. »Wie ich Sie kenne, ist des Rätsels Lösung bestimmt nicht mehr weit.«
»Ihr Wort in Gottes Ohr, Molli!«, seufzte Sydow, verdrückte sich wieder in sein Büro und stieß die Tür mit dem Absatz zu. Für Optimismus bestand keinerlei Anlass, im Gegenteil. Deutlicher ausgedrückt: Er war bislang noch keinen Schritt weitergekommen. Die Vernehmung des Pärchens, das auf den Leichnam am Spreebogen gestoßen war, hatte keinerlei Anhaltspunkte erbracht. Zu allem Unglück, das über ihn hereingebrochen war, hatte es sich bei den beiden Turteltäubchen um einen verheirateten Hotelier und seine ebenfalls unter der Haube befindliche Empfangsdame gehandelt, deren Techtelmechtel auf der Uferpromenade durch den Leichenfund jäh unterbrochen worden war.
Mit sich und der Welt auf Kriegsfuß, tröstete sich Sydow mit einem Schluck Bohnenkaffee und stellte die Tasse auf seinem Schreibtisch ab. Anschließend wandte er sich dem Fenster zu, beging dabei jedoch den Fehler, im Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel zu werfen. Als er sein übernächtigtes Konterfei beäugte, sank seine Laune endgültig auf den Nullpunkt.
»Du brauchst eine Frau, Tom. Eine Frau, mein Junge, hast du gehört?«, schärfte er seinem Spiegelbild mit gestrengem Seitenblick ein, wobei er jedes R in Zitzewitz’scher Manier hervorhob. »Von wegen!« Nach Lage der Dinge würde bei seinem Anblick nicht einmal das liebeshungrigste Frauenzimmer von ganz Berlin und Umgebung anbeißen.
»Verzeihung, Herr Kommissar – das Krankenhaus in Zehlendorf hat gerade angerufen.«
Knallrot im Gesicht, drehte sich Sydow um, und obwohl er sich für seinen albernen Imitationsversuch schämte, verzog er beim Anblick seiner Sekretärin keine Miene.
»Und?«
»Eine Vernehmung des Motorradfahrers, der heute früh niedergeschossen worden ist, wird bis auf Weiteres nicht möglich sein«, erklärte Annerose Mollig, die im Umgang mit den übrigen Polizisten großen Wert auf die Anrede ›Fräulein‹
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