Bernsteinaugen und Zinnsoldaten
antaten?
Was geschah dort vorn? Sollte sie …? „Hört auf! Hört auf!“ Ihr Ruf galt hauptsächlich Schneller Springer. Den Speer in Händen, rannte sie los.
Doch während sie dies tat, löste die Kette sich erneut auf. Mondschatten wimmerte, aber sein Schrei erstarb, als er seine Augen öffnete. Die zwei Männer, die ihn gehalten hatten, ließen ihn frei, woraufhin er zusammenbrach, als wären alle Stärke, alle Kraft und aller Stolz in einem einzigen, unverständlichen Angriff von ihm genommen worden. Schneller Springer blickte von ihm zu ihr, noch immer von bösartiger Zufriedenheit erfüllt, als ihre Augen sich trafen. Er bewegte seinen Stab. „Halt!“
Sie hielt inne, doch die Speerspitze wies weiterhin in seine Richtung. „Was habt ihr getan?“ Sie sprach, so gut es ging, gegen die Menge, die wie ein Wald aus Pfählen vor ihr aufragte. Die Ältesten bildeten einen Kreis um sie, die Augen, die ihr noch vor kurzem eine Art von stummer Reverenz erwiesen hatten, betrachteten sie nun mit Angst und Verzweiflung, kalt wie der Wind.
Schneller Springer richtete das Wort an die Menge. „Ich sage euch die Wahrheit! Dieser da“ – sein Stab zeigte auf Mondschatten – „und sie“ – er schwenkte ihn furchteinflößend in ihre Richtung, war aber doch nicht verwegen genug, sie zu berühren – „wollen uns den Sternenmenschen ausliefern, wie schon einmal! Wir zeigen euch die Wahrheit!“ Auf sein Zeichen hin verschwanden die Ältesten in der Menge. „China rettet uns! Gebt den Sternenmenschen Chitta, und sie sterben! Gebt ihr Chitta und werdet Zeuge ihres Todes …“ Sein Stab schlug gegen den Speer; klirrend entglitt er ihren gefühllosen Händen und fiel zu Boden.
Erneut nahm sie die Leuchtkugel an sich. Sie fühlte sich, wie die Menge sie sah, ihres uralten Geistes beraubt, eine ungekämmte, verzweifelte Vogelscheuchengestalt, machtlos gegen die Rache, die sie im Namen ihrer Ahnen – zu ihrer eigenen Befriedigung – an ihr vollziehen würden. Sie sah, wie Mondschatten sich mühsam auf die Knie erhob, sah ihre eigene Furcht und ihre Verzweiflung im Spiegel seines Gesichts. „Geh!“ Sie war kaum in der Lage, die Worte zu verstehen. „Geh, Sternenfrau! Lauf!“
Gehorsam drehte sie sich um, brach an einer schwachen Stelle aus der Menge aus und floh blind über den Platz, tauchte unter im dunklen Mund einer Straßenöffnung, rannte, rannte …
Schließlich nur noch verfolgt von Erinnerungen an ihre Angst, taumelte sie weiter durch die engen Täler der nächtlichen Straßen, stolpernd, fallend, halb verrückt angesichts der sich überlappenden Bilder zweier Welten, Erinnerungen an eine erleuchtete Stadt des Lebens und ihrer Geräusche, die die zerbrochenen Ruinen erfüllte. Doch schließlich war keine Vision mehr in der Lage, ihre schmerzenden Füße zum Weitergehen zu bewegen. Sie hielt inne, Schmerz zerfraß ihre Lungen, und wandte ihre Augen der fremdartigen Symmetrie des Stadtrandes zu. Der Mond erschien wie ein kleines, silbernes Gesicht und starrte sie über die hohen Türme hinweg an; wie sie vor kurzem in ihrer Vorstellung die Fenster mit den Geistern der Vergangenheit gefüllt hatte, so füllte derMond nun sie mit seinem Licht. Etwas bewegte sich im silbernen Mondlicht zu ihren Füßen, sie nahm ein leichtes Klappern von Knochen wahr. Ihr Angstschrei hallte tausendfach zu ihr zurück, bis das Echo in der Stille verebbte. Als wäre sie das einzige lebende Geschöpf …
Und als sie sich vollständig verloren glaubte, erhellte das Mondlicht die unverwechselbaren Formen des zerstörten Gebäudes, in dem Mondschatten sein Lager hatte, ein silberner Finger wies ihr den Weg ins Innere. Sie trat ein, legte alle Gedanken, alle Sorgen ab, nahm dankbar diese einzige Oase der Wirklichkeit in der dunklen Nacht hin.
Sie fand die zerschmetterte Wand, verborgen im Halbschatten, und glitt in das einsame Innere. Aber niemand entfachte das erloschene Feuer, niemand erwartete sie, sitzend oder auf den Lumpen ausgestreckt – er war nicht gekommen. Tarawassie fiel auf ihre Knie, lag am Rand seiner Lagerstatt, ihr Mund zitterte. Würde er jemals kommen? War er tot? Waren die anderen Teilhaber an seinen Geheimnissen, den guten wie den bösen, geworden, um ihn dann zu töten – wie sie auch sie getötet hätten, für das Gute wie für das Böse, dafür, daß sie ihnen die Wahrheit gezeigt hatten?
Doch der Grund spielte keine Rolle – er war gegangen! Und sie hatte nicht genügend Kraft, um seine Seele zu
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