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Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Bernsteinaugen und Zinnsoldaten

Titel: Bernsteinaugen und Zinnsoldaten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan D. Vinge
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rufen. Sie besaß nicht die Kraft der Unsterblichkeit, hatte keine Macht über Seelen, auch nicht über ihre eigene. Nur eine schreckliche Einsamkeit blieb ihr. Mondschatten, ihre Mutter – beide waren jenseits von Tränen, Schmerz und Einsamkeit, und sie war mit all diesen Dingen zurückgeblieben. Noch so vieles war ungetan, ungesagt, und sie konnte nichts mehr ändern. Alle Möglichkeiten, etwas zu tun oder auch zu lassen, waren verloren … verloren …
    Trauer erfaßte sie, von einem trockenen Schluchzen geschüttelt, erschauerte sie bei dem Gedanken an die Fruchtlosigkeit ihrer Tagträume, die nun nie mehr Wirklichkeit werden würden, genausowenig wie die Träume, die der Chitta-Sirup ihr gezeigt hatte. Warum nur hatte sie geglaubt, die Sternenquelle enthielte die Antwort für alle Fragen? Wie konnte sie erwartet haben, akzeptiert zu werden, mit so vielen unbekannten Größen, Ängsten und Zweifeln, die ihren Geist erfüllt hatten? Wie konnte sie nur geglaubt haben, dies alles spiele keine Rolle? Sie war gerade dabei zu lernen, was es hieß zu leben – wollte sie nun so früh sterben?
    Denn wie konnte sie wissen, ob eine intakte Zivilisation am Ende des Tunnels wartete? Vielleicht war es eine Welt, in der sie gerne ihr neues Leben leben würde, vielleicht würde man sie akzeptieren – vielleicht war diese Kultur aber auch zu Staub zerfallen, wie die menschliche Zivilisation hier. Ihre Mutter war tot, und nur der Kummer ließ sie glauben, daß ein gütiges Wunder ihr das Leben zurückgegeben hatte. Niemand war in den vergangenen fünfhundert Jahren gekommen, um nach ihrem Volk zu sehen, und niemand würde jemals kommen. Wenn der Geist ihrer Mutter eine neue Heimat gefunden hatte, so war es ein Ort, wohin ihr kein lebendes Wesen folgen konnte … Oder war sie nur zerstoben in der Dunkelheit, verloren im Spektrum der Stille gefrorenen Gases und Staubes? Wußte sie es, wollte sie es überhaupt wissen?
    „Ich will das nicht! Ich will das nicht!“ schrie Tarawassie und kam hoch, kauerte sich dann aber im Echo ihres eigenen Schreies auf die Knie zurück. „Ich will nicht, daß sie gestorben ist!“ warfen die Echos zurück. „Ich will die Wahrheit nicht wissen, und ich will mein Leben nicht wegwerfen!“ In den Falten ihrer verschlissenen Kleider preßte sie die geballten Fäuste gegeneinander. „Und ich muß es nicht tun! Es gibt keinen Grund zu gehen, keine Notwendigkeit, es zu versuchen. Ich muß es nicht versuchen!“
    Ein Stöhnen drang an ihr Ohr, als die Echos verstummten, das Klirren fallenden Gerölls. Sie erstarrte wie ein überraschtes Tier, kehrte langsam in die Gegenwart zurück, blinzelte in die Lichtfinger, die wie eine schützende Hand in die Dunkelheit ihres Lagers griffen.
    Sie unterdrückte einen erneuten Aufschrei, wohl wissend, daß ihre eigene Stimme sie schon oftmals betrogen hatte.
    Plötzlich verdunkelte eine Gestalt das Licht – ein Eingeborener! Eine Stimme rief … ein heiseres Bellen, seltsam vertraut.
    Schwerfällig erhob sie sich, wagte kaum zu atmen. „Mondschatten? Mondschatten?“
    Er kroch langsam ins Innere, seine Bewegungen waren schwerfällig wie die eines Krüppels. Sie blinzelte, um sich von der Richtigkeit ihrer Wahrnehmungen zu überzeugen. Er erreichte sie dort, wo sie stand, neben der Feuerstelle, zögerte einen Moment, seine Augen blickten durch sie hindurch. Sein Gesicht verzog sich, Verwirrung und etwas wesentlich Dunkleres umwölkte seine Augen. Doch dann kehrte sein Blick zu ihr zurück, er hob seine Arme und legte sie in einer Geste der Wiedervereinigung auf ihre Schultern. Sie hob ihre eigenen Hände und preßte sie auf die seinen. Ein reuevolles Lächeln lag auf seinem Gesicht, das Gewicht seiner Hände zog sie mit ihm hinab, als er erschöpft auf das Lager sank. Mit ihrem eigenen Körper bremste sie sanft seinen Fall ab; dunkle Flecken bedeckten seinen Pelz.
    „Mondschatten …“ Sie nahm eine seiner Hände in ihre eigenen und sah geronnenes Blut an den Fingern, wo eine Klaue weggerissen war. Sie öffnete ihre zerschundenen Arme. „Sind sie verrückt? Oder sind wir es …? Wie konnten sie dir nur so weh tun?“ Ihre Hände falteten sich erneut über seiner schmalen, dreifingrigen Pfote. „Wie? Und warum?“
    Unter großen Schmerzen erschauerte er leicht. Ein leiser, jammervoller Singsang kam wie eine Totenklage von seinen Lippen.
    Von einer Vorahnung erfüllt, hob sie den Blick. „Was ist? Was ist geschehen? Was haben sie getan?“
    Mondschatten

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