Dornenkuss
UN ATTIMO DI PACE
Ich war bereit. Mein Nacken hatte endlich die richtige Position auf dem Kissenberg unter meinem Kopf gefunden und meine Füße waren warm in die hellblaue Fleecedecke eingepackt, während ich Hüfte und Schultern in ein etwas dünneres Exemplar aus Baumwolle gewickelt hatte. Das Dröhnen der Rasenmäher, das an trockenen Tagen wie diesen unvermeidlich gegen Mittag einsetzte und jeglichen Frieden bis zur Dämmerung zerstörte, war soeben überraschend verstummt und sogar der Nachbar hatte aufgehört, die buschigen Seitenränder seines Vorzeigerasens mit der elektrischen Schere zu bearbeiten.
Doch vollkommene Stille wollte ich nicht. Deshalb lag mein rechter Zeigefinger startklar auf meinem MP3-Player, um beim ersten Sonnenstrahl, der durch die Wolken brach, ein Lied abzuspielen, dessen Urheber einen noch dämlicheren Namen trug als der Titel selbst. Fatal Fatal von DJ Pippi. Aber für mich war der Song seit dem Durchforsten der Chill-out-Plattensammlung meines Bruders der Inbegriff des Sommers, ja, eine Hymne an das Nichtstun, das Entspannen, und genau darauf wartete ich, ungeduldig und erfüllt von beinahe krankhafter Vorfreude. Denn ich hatte nicht viel Zeit, mich zu entspannen. Mein Computer wartete im Stand-by-Modus auf mich. Ich musste nur die Maus bewegen, damit er wieder zu rechnen und mein Gehirn zu arbeiten begann. Ich hatte mir heute Nacht nur knappe drei Stunden Schlaf erlaubt, wie üblich zwischen zwei und fünf; schon bei Anbruch der Helligkeit und dem elend fröhlichen Vogelgezwitscher vor meinem Fenster hatte ich mich wieder an meinen Schreibtisch gequält und weitergeforscht – um schon nach wenigen Klicks zu ahnen, dass es sinnlos sein würde. Ich fand die heiße Spur nicht, nach der ich suchte, geschweige denn den roten Faden, den es geben musste – ja, es musste ihn geben, also warum zum Henker offenbarte er sich mir nicht?
Unruhig wälzte ich mich auf die Seite und zog die rutschende Decke wieder über meine Hüfte. Sollte ich jetzt schon meine Ruhepause beenden? Und weitersurfen? Nein, es hatte keinen Zweck, ich hatte vorhin nichts mehr erkennen können auf dem Bildschirm, weil meine Augen überreizt und ausgetrocknet waren. Gedanklich ordnen konnte ich all die Informationen, die auf mich einprasselten, sowieso nicht mehr. Ich musste mich ausruhen. Ich wollte es ja auch. Erst recht, nachdem ich wieder unfreiwillig auf einer dieser kunterbunten Touristikseiten gelandet war, die mir genau das versprachen: tiefe, glückselige, azurblaue Entspannung. Müßiggang und Nichtstun in der Wiege der mediterranen Kultur. Italien. Italien, das gelobte, ferne Land, das mich wahlweise an den Rand des Zusammenbruchs brachte oder mit Entzücken erfüllte – und mir das verweigerte, was es verbarg.
Mahre. Mahre und vielleicht meinen Vater.
Und Tessa.
Genau das konnte ich nicht glauben, wenn ich all die Internetseiten durchforstete, die Google ausspuckte, sobald ich »Italien« in das Suchfenster tippte. Natürlich gab es da – vorausgesetzt, man hatte die unzähligen Seiten mit Urlaubsangeboten hinter sich gelassen – nicht nur Verheißungen. Nein, Italien hatte zum Beispiel verheerende Erdbeben hinter sich, litt unter einer korrupten Politik mit einem zweifelhaften Staatschef (ich hatte mich sogar kurz gefragt, ob er möglicherweise ein sexbesessenes Halbblut war), im Süden herrschten die Mafia und eine hohe Arbeitslosigkeit, ungelöste Flüchtlingsprobleme gärten vor sich hin, die Wirtschaft krankte, aber diese Meldungen wirkten beinahe niedlich und unbedeutend zwischen dem Übermaß an südlicher Schönheit, die sich mir darbot, vor allem auf Blogs von Reisenden und Seiten über Kunst und Architektur. Italien war nicht nur das sagenumwobene Urlaubsland, sondern auch der Inbegriff künstlerischer Ästhetik. Vor lauter Verzweiflung hatte ich mir gestern stundenlang die Gemälde der Sixtinischen Kapelle angeschaut und gehofft, versteckte Hinweise auf Mahre zu finden. Ich fand allerhand, doch Mahre waren es nicht.
Es machte mich schier verrückt. Die kargen Informationen, die ich vorher bereits mühsam gesammelt hatte, passten nicht mit den Ergebnissen meiner Recherchen zusammen und waren überdies bizarr, kryptisch und voller unausgesprochener Albträume.
Information Nummer eins: Mein Vater war in Italien verschollen, immer noch. Kein einziges Lebenszeichen. Seit Monaten warteten wir auf irgendeinen Hinweis, der uns sagte, dass er noch lebte, und wenn er noch so winzig war. Nichts.
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