Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
es kam ihr vor, als schaue eine völlig fremde Person durch ihn hindurch. In ihren Erinnerungen an Randall Jarrell schreibt sie: »Randall jedenfalls hatte nichts, was ihn vor der Welt schützte –außer seinem herrlichen Lachen und dahinter einen riesengroßen, reinen Mut.« 8
Der amerikanische Militäreinsatz in Vietnam nimmt massivere Formen an. Ende 1965 stehen 184 300 Amerikaner in Vietnam und die Zahl steigert sich fast täglich. Man will mit aller Gewalt Nordvietnam in die Knie zwingen. Die Stimmen in den USA gegen diesen Krieg werden immer lauter. Im Oktober führen Hannahs Freund Robert Lowell, der Schriftsteller Norman Mailer, Martin Luther King und andere Prominente einen Protestmarsch von 200 000 Menschen an, der zum Pentagon zieht. Die Zeitschrift New York Review of Books macht Mary McCarthy das Angebot, als Berichterstatterin nach Vietnam zu gehen. Mary lehnt ab, um ihren Mann nicht zu gefährden.
Auch an den amerikanischen Universitäten nimmt der Protest zu. In Chicago, wo Hannah im Frühjahr 1966 wieder unterrichtet, besetzen Studenten das Hauptgebäude. Hannah beteiligt sich an deren Diskussionen. Sie unterstützt das Anliegen der Studenten, mehr Mitspracherecht an der Universität zu erhalten. Manche rufen bei ihr mitten in der Nacht an, um sie um Rat zu fragen. Hannah macht ihnen klar, dass sie das besetzte Gebäude bald wieder räumen und eine Niederlage einstecken müssten. Dennoch ist sie beeindruckt davon, dass die Studenten sich immer an die »parlamentarischen Spielregeln« halten und keinen Augenblick »ein Mob« sind.
In diesem Semester muss Hannah das erste Mal Kollegs ausfallen lassen, weil sie mit Grippe und Fieber im Bett liegt. »Werde alt!«, schreibt sie an Jaspers. Hannah sieht ihrem sechzigsten Geburtstag entgegen. Das Altwerden macht ihr nichts aus. Allerdings möchte sie in Ehren ergrauen und sich keine künstliche Jugendfrische erhalten. Auch der Gedanke an den Tod macht ihr keine Angst. »Ich habe immer gerne gelebt«, bekennt sie Jaspers, »aber so gerne, dass es immer weiterdauern sollte, wieder auch nicht. Mir war der Tod immer ein angenehmer Genosse – ohne Melancholie. Krankheit wäre mir sehr unangenehm, lästig oder schlimmer. Was ich gerne hätte, wäre ein sicheres, anständiges Mittel zum eventuellen Selbstmord; ich hätte es gern in der Hand.« 9
Bei Jaspers trifft Hannah mit solchen Überlegungen auf vollstes Verständnis. Seit der Nazizeit lebt er mit dem Gedanken an Selbstmord, und was die »anständigen Mittel« betrifft, ist er Experte. Er schildert Hannah ausführlich, welche Pharmaka wie Zyankali, Morphium oder Veronal in Frage kommen, wie man sie zu sich nimmt und welche Vor- und Nachteile sie haben. Was ihn jedoch »verdrießlich« macht, ist, dass man so schwer an diese Mittel herankommt. »Die ›freie Welt‹ ist nicht frei«, empört er sich, »denn sie verbietet den Selbstmord.«
Karl Jaspers’ Zustand ist schlechter geworden. Die Schmerzen in den Gelenken können nur noch mit Spritzen gemildert werden. Hannah Arendt hält er über seine Krankheit auf dem Laufenden. Er berichtet detailliert und sachlich über den Befund der Ärzte und seine Behandlung. Hannah bewundert die »ruhige Souveränität«, mit der er beschreibt, »wie es ist«. »Dass man im Guten und Bösen dem Wirklichen die Treue halten muss«, meint sie, »darauf läuft doch alle Wahrheitsliebe heraus und alle Dankbarkeit dafür, dass man überhaupt geboren wurde.« 10
Sie besucht Karl Jaspers im September. Er ist nur mehr ein Schatten seiner selbst. Aber er möchte noch immer das Buch über Hannah schreiben. Sie kann ihn schließlich überreden, dieses Projekt fallen zu lassen, was ihn sehr zu erleichtern scheint. Zum Abschied schenkt er ihr ein Perlencollier.
Auch Mary McCarthy kommt in die Schweiz, um sich mit Hannah zu treffen. Mary macht es sehr zu schaffen, dass sie in ihrem politischen Engagement zur Untätigkeit verdammt ist. Bald darauf erneuert der New York Review of Books sein Angebot, sie als Berichterstatterin nach Vietnam zu schicken. Diesmal sagt sie zu.
Vor ihrer Abreise nach Vietnam, am 2. Februar 1967, kommt Mary noch einmal nach New York. Sie bringt eine Kiste erstklassigen Rotweins mit, »den ich«, wie Hannah gesteht, »langsam, aber sicher wegsaufe«.
Mary muss in New York ihre Reise vorbereiten. Sie lässt sich einen normalen Pass ausstellen, denn mit dem Diplomatenpass, den sie besitzt, möchte sie nicht reisen. Und sie verfasst ein Testament. »Du
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