Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt
ist die Stadt in hellem Aufruhr. Die Studentenunruhen in Amerika haben nun auch auf Europa übergegriffen. An der Universität, der Sorbonne, bricht der Vorlesungsbetrieb zusammen. Es kommt zu Straßenschlachten und Studenten besetzen das Theater Odeon im Quartier Latin, um es zu einem Forum für Diskussionen zu machen. Mary McCarthy berichtet Hannah begeistert darüber, wie »junge Arbeiter, Geschäftsleute, ein Armeeoberst, Schullehrer, ein Cafekellner, hübsche junge Hausfrauen« im Odeon das Wort ergreifen. 4 Hannah ist erfreut zu hören, dass der Sohn alter Freunde, die sie in den dreißiger Jahren in Paris gekannt hatte, einer der Anführer der Revolte ist. Er heißt Daniel Cohn-Bendit, genannt der »Rote Danny«. Sie schickt ihm sogar einen Brief, worin sie ihm finanzielle Unterstützung anbietet.
Hannah Arendts Meinung über die Studentenunruhen in Frankreich und in Deutschland ist jedoch keineswegs nur zustimmend. Sie findet es großartig, dass die Studenten die Entdeckung gemacht haben, dass man die gesellschaftlichen Verhältnisse miteinander und aus eigener Kraft ändern kann. Aber die Wolke von Theorien, die sich über diesen Aktionen erhebt, ist für sie enttäuschend »steril« und zeugt von großer Hilflosigkeit. 5 Besonders der so genannten Neuen Linken in Deutschland wirft sie vor, mit Schlagworten aus dem 19. Jahrhundert um sich zu werfen und theoretisch so verstiegen zu sein, »dass sie gar nicht sieht, was ihr vor der Nase liegt«. Anstatt in der wirklich brisanten Frage nach der Oder-Neiße-Linie Stellung zu nehmen, würden die deutschen Studenten gegen Vietnam und den Schah demonstrieren, also gegen Missstände, die weit weg sind und die zu kritisieren mit keinerlei Risiko verbunden ist. Am bedenklichsten ist für Hannah Arendt jedoch die »merkwürdige Verzweiflung«, die sie hinter allen Aktionen und Parolen der Studenten wahrnimmt. Es kommt ihr so vor, als könnte die Welt für diese Revoluzzer nicht schlecht genug sein, um ihren Kampf zu rechtfertigen. »Treibt es weiter, treibt es weiter«, so scheinen sie der Gesellschaft zuzurufen. »Und dahinter die Überzeugung: Alles ist wert, dass es zugrunde geht.«
Im Sommer 1968 hat Hannah andere Sorgen, als sich über die »Bomben werfenden Kinder« in Europa den Kopf zu zerbrechen. Heinrich Blücher sollte vom Bard College Mitte Juni der Ehrendoktor verliehen werden. Kurz vor der feierlichen Zeremonie im College hat er einen Herzanfall; »keinen Infarkt«, wie Hannah erleichtert an Jaspers schreibt. Er wird in eine Klinik eingeliefert, wo sich sein Zustand schnell bessert. Nach wenigen Tagen kann er wieder entlassen werden. Zu Hause muss er zwar eine Diät einhalten, aber er deckt sich reichlich mit Whiskey ein und der Arzt hat ihm auch erlaubt, »in Maßen« seine Pfeife und seine Zigarren zu rauchen.
Um die Zeremonie nachzuholen, kommt eine Abordnung des Bard College samt dem Präsidenten in die Wohnung am Riverside Drive. Hannah serviert Champagner und Kaviar, von dem der frisch gebackene Dr. h. c. Heinrich Blücher allerdings nichts essen darf.
Wegen Heinrichs Erkrankung hat Hannah ihre diesjährige Europareise abgesagt. Aber nachdem er sich so schnell wieder erholt hat und sie gemeinsam ein paar ruhige Tage in Palenville verbracht haben, entschließt sie sich doch, wie sie an Jaspers schreibt, »schnell mal rüberzukommen«.
Anfang September ist Hannah zu Besuch in dem kleinen Haus der Jaspers in der Austraße in Basel. Karl Jaspers kann sich nur noch mit Hilfe eines Gestells mühsam fortbewegen. Doch Hannah findet ihn umgänglicher als vor einem Jahr, weil er seinen Verfall nicht mehr verheimlichen will und »kein Theater mehr zu spielen braucht«. An Heinrich berichtet sie: »Er sagt: Das Leben war schön. Ich sage: Du denkst doch immer noch: Das Leben ist schön. Er sagt: ›Du hast Recht. Ich weiß, ich bin ein Gerümpel. Es ist mir manchmal peinlich und es tut mir Leid für die anderen. Wie langweilig für dich. Aber ich für mich bin zufrieden.‹« 6
Hannah telefoniert von Basel aus auch mit Heinrichs altem Freund Robert Gilbert, der in der Nähe von Locarno wohnt. Gilbert will die beiden dazu überreden, in die Schweiz zu ziehen und dort ihren Lebensabend zu verbringen. Hannah reizt der Gedanke sehr. In den letzten Jahren fühlt sie sich in New York nicht mehr recht wohl. Die Kriminalität in der Stadt ist stark angestiegen. Sie traut sich kaum mehr allein auf die Straße oder in einen Aufzug. Auch die Gewalt und der
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