Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
nicht alles Leon verdanken wollen.
Therese bewunderte Männer wie Thomas Mann, der den Nobelpreis bekommen hatte. Wie angezogen von einem Sog, las sie die Novelle ›Tod in Venedig‹ und war dennoch glücklich, das Fremde, Dunkle, Geheimnisvolle, die flirrenden Bilder, die diese Lektüre in ihr hinterließ, abzustreifen, daraus aufzutauchen. Wenn Therese mit Anni und Sybille zum Baden in die Floriansmühle ging, wenn sie prustend und jachternd um die Wette schwammen und sich nachher in der Sonne wohlig ausruhten, dann fühlte Therese sich seltsam leicht. Ja, richtig erleichtert war sie, denn gerade nach reichlicher Lektüre, die ihr den Kopf füllte mit Rätseln und Gewissensfragen, gerade dann tat es ihr gut, sich selbst im Wasser zu spüren oder im Gras zu liegen und den Geruch der Erde zu atmen und einfach nur zu leben, zu sein. Therese sehnte sich nach Wissen, nach einer Lebensphilosophie, die ihr gemäß wäre und logisch erschiene. Doch die Klassiker machten ihr angst in ihrer Kompliziertheit. Da las Therese lieber Autoren, deren Sprache ihre eigene war. Aus deren Gedanken sie ihre eigenen Konflikte und Bedürfnisse erkennen konnte. So wie Irmgard Keun schrieb, fühlte auch Therese. »Immer ein Wollen, immer ein Suchen, immer Sehnsucht nachDunkel und Nichtwissen. Kein Wissen im Wohin, kein Wissen um Woher, Denken ohne Worte. Und einer sagt Leid, und einer sagt Schmerz, und einer Verbrechen – Schmutz – oder Gott. Kein Wort trifft zutiefst hinein. Was bin ich denn nur? Alles Böse und Gute, das ist der Mensch. Und Himmel und Hölle, das ist der Mensch, das Traurigste und Lächerlichste. Ein Mensch.«
Alles Böse und Gute, das ist der Mensch. Therese lernte jetzt jeden Tag eindrucksvoller, daß dies aber nicht auf Juden zutraf. Therese lernte es in Biologie, hörte, daß Juden eine minderwertige Rasse seien, die das Deutschvölkische zerstören wollten. Erst als Therese achtzehn war, erfuhr sie, daß sie etwas Abscheuliches, Minderwertiges war, eine Jüdin. Immerhin hatte Therese im Gegensatz zu der fünf Jahre jüngeren Sybille noch Abitur machen dürfen. Wie alle Schüler bekam sie im Auftrag des Führers von der Schulleitung das Buch ›Mein Kampf‹ geschenkt. Therese wollte den Band in die Mülltonne werfen, doch Leon, der zum Gratulieren gekommen war, drang darauf, daß sie es lesen sollte.
»Bitte, Therese, lies, es ist dringend notwendig, sonst lernst du nämlich nicht, in universellen Dimensionen zu denken.«
Leon hatte es zynisch, überheblich und bitter zugleich gesagt. Kein Wunder, denn er hatte als erster aus der Familie den gefährlichen Wind der neuen Zeit gespürt.
Therese, beflissen, las: »Der Stärkste an Mut und Fleiß erhält dann als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des Daseins zugesprochen. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden. Dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dies Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar. Am Ende siegt ewig nur die Sucht der Selbsterhaltung. Unterihr schmilzt die sogenannte Humanität als Ausdruck einer Mischung von Dummheit, Feigheit und eingebildetem Besserwissen wie Schnee in der Märzensonne. Im ewigen Kampfe ist die Menschheit großgeworden – im ewigen Frieden geht sie zugrunde.«
»Du mußt dir das einmal vorstellen«, sagte Leon und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, »nach dieser selbstgestrickten Theorie ist das Leben nichts anderes als ein einziger tödlicher Konflikt. Die Völker kämpfen mit allen Mitteln um Lebensraum. Das ist ihr einziges Interesse, der Sinn ihres Daseins. Alle kämpfen gegen alle, der Starke siegt dabei naturgemäß über die Schwachen.«
Therese las Leon die Stelle vor, wo Hitler die Gesellschaft mit dem Tierreich vergleicht. Hitler schreibt, daß die Natur nicht unmoralisch sei: »Wer hat die Schuld, wenn die Katze die Maus frißt. Ein Wesen trinkt das Blut des anderen. Indem das eine stirbt, ernährt sich das andere. Man soll nicht faseln von Humanität.«
»Nicht zu fassen«, sagte Leon, »wie der das alles auf einen Nenner bringt. Die rücksichtslosen Naturen sind den Empfindlichen überlegen. Die Kraft siegt über den Geist.«
Therese war gerade bei der Stelle, wo Hitler die Affen als Anschauungsmaterial bemüht. »Die Affen trampeln jeden Außenseiter als gemeinschaftsfremd tot, und was für die Affen gilt, gilt in erhöhtem Maße auch für die Menschen.«
Außenseiter,
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