Beschuetz Mein Herz Vor Liebe
sein an sie und an das Ungeborene, und schon kam sich Therese wieder verlogen vor. War sie nicht in Wahrheit froh, Leon, den anstrengenden Schulmeister ihres Alltags, auf diese Weise los zu sein? Hatte sie die fruchtlosen Diskussionen mit ihm nicht längst satt? Hatten die immer wiederkehrenden Vorführungen seiner intellektuellen Überlegenheit sie nicht schon längst mit Überdruß erfüllt? Sollte er doch vor Paula predigen. Obwohl Paula, so glaubte Therese, von Leon lediglich sexuell erlöst werden wollte und ansonstennicht viel Verwendung hatte für Stefan George, André Gide, Nietzsche und Platon, mit deren Gedanken Leon Therese stets zu füttern getrachtet hatte. Füttern. Essen. Ekelhaft.
Nicht einmal an den Konsum literarischen Gedankengutes mochte Therese jetzt denken. Sie mußte alles erbrechen. Jeden Morgen. Und von daher ließ sie es zu, daß die Geschehnisse über ihre Unentschlossenheit hinwegrollten. Sie war viel zu müde, viel zu elend, sich in irgendwelche Geschehnisse, in irgendwelche Entwicklungen einzuschalten, womöglich sich auch noch dagegenzustemmen. Wenn sie je hätte widerstehen wollen, dann wäre dieser Widerstand jetzt in ihrer morgendlichen Übelkeit untergegangen.
Paulas Pläne, Leon in ihre Praxis aufzunehmen, erwiesen sich als undurchführbar. Das Reichsinnenministerium hatte schon im Sommer 1935 ein Blutschutzgesetz verabschiedet, das die Eheschließung zwischen Juden und Ariern unmöglich machte. Darüber hinaus wurde außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Ariern bei Zuchthausstrafen verboten. Im ›Stürmer‹ las Therese, daß immer mehr Juden deutsche Mädchen schändeten, indem sie mit ihnen schliefen. Dabei könne schon ein einziger Beischlaf eines Juden mit einer Arierin die Schleimhäute ihrer Scheide durch den artfremden Samen derart imprägnieren, daß diese Frau nie mehr reinblütige Arier gebären könne. Wäre also Leon denunziert worden, was nur eine Frage der Zeit gewesen wäre, Paula hätte sofort ihre Kassenzulassung und ihre Approbation verloren.
Leon und Paula bereiteten hastig ihre Reise in die Staaten vor, zu Thereses Verwandten, die noch nicht über die Scheidung informiert waren.
Wieder ein Jude weniger in München. Therese wußte, daß um 1933 mehr als 10 000 Juden in der Stadt gelebthatten. Jetzt hörte sie, daß davon bereits 3000 ausgewandert waren. Therese dachte an Ivan. Zu ihm ja, aber nicht mit Leons Kind.
Thereses Eltern erfuhren erst vom Zustand ihrer Tochter, als es nichts mehr zu verbergen gab. Nur Sybille hatte von Anfang an gewußt, daß Therese schwanger war. Als die Eltern Therese darauf hinwiesen, daß sie unbedingt Leon davon in Kenntnis hätte setzen müssen, verteidigte Sybille ihre Schwester so vehement und endgültig, daß die Eltern schwiegen. »Hätte sie riskieren sollen«, fragte Sybille, »daß er aus Rücksicht auf ein Kind hierbleibt? Was hätte Therese davon? Einen ständig deprimierten Mann, der eine Eiseskälte um sich verbreitet, daß einem die Seele einfriert. Laßt den bloß mit seiner fetten Paula nach Amerika und laßt uns hier alleine weitermachen. Es ist schon schlimm genug, daß wir in dieser Zeit ein Kind kriegen.«
Im Dezember 1937 kam Valerie auf die Welt. Nachmittags, gegen 17.00 Uhr, setzten die Wehen ein. Vater benachrichtigte die jüdische Hebamme, die in der Ungererstraße wohnte. Mutter bestand darauf, Leons Eltern zu unterrichten, worauf Sybille meinte, daß dann auch die Großeltern Suttner ein Recht hätten, im Wege zu stehen. Sybille und Mutter hielten Thereses Hand, immer wenn die Wehenschmerzen ihr den Bauch und den Rücken zu zerschneiden schienen. Thereses Schmerzen wurden immer mächtiger, füllten sie aus. Schmerzen, die Therese sich nicht hatte vorstellen können.
Die Hebamme war glücklicherweise rasch da. Sie riß Therese das naßgeschwitzte Hemd herunter, frottierte sie, massierte sie, doch die barbarischen Schmerzen ließen nicht nach. Es schien Therese, als seien sie immer dagewesen, ohne Anfang, und Therese war sicher, sie würden auch kein Ende nehmen. Doch dann, kurz vor dem Wahnsinn oder mittendrin, war Valerie da. Mit grämlichem Gesichtlag sie zwischen Thereses Beinen auf dem Laken und hielt eine Hand gegen die Stirn gepreßt. »Sehen Sie«, sagte die Hebamme und hielt Valerie hoch, »ein kluges Kind. Sieht so aus, als wollte sie sagen, wär ich doch besser nicht gekommen. Ich weiß, ich rede gegen mein Geschäft, aber für uns Juden wäre es besser, nicht geboren
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