Besessene
Erinnerungen in mir. Es schien hier weit und breit nur schmale dunkle Straßen zu geben, in denen sich Terrasse an Terrasse reihte, die nicht mal durch den Schnee an Attraktivität gewannen. Die Straßenbeleuchtung brannte schon und wirkte vor der reinweißen Umgebung leuchtend gelb. Wir begegneten kaum einem Menschen, während wir hintereinander herstapften, und bald schon sahen wir nur noch verschwommen, weil die Schneeflocken sodicht vor unseren Augen wirbelten. Sie blieben sogar an meinen Wimpern kleben und ich blinzelte sie ungeduldig weg. Ich kam mir vor, als stände ich in einer umgedrehten Schneekugel.
Genevieve führte uns durch eine Reihe enger Gassen. »Das hier ist eine Abkürzung«, teilte sie uns mit. Ich musste darauf achten, genau in der Mitte des Bürgersteigs zu gehen, weil ich immer wieder in die Abwasserrinne rutschte, die neben einer mit Graffiti beschmierten Backsteinmauer verlief. Im Vorübergehen las ich flüchtig ein paar Namen, Parolen und Liebeserklärungen und dachte an die Leute, die vor uns hier gewesen waren. Ob Mum wohl auch mal diese Abkürzung gegangen war, als sie, nur wenige Jahre älter als ich, noch Hoffnungen hatte und voller Leben war? Vielleicht war ja mein Vater genau an dieser Stelle stehen geblieben, hatte sie geküsst und ihr ewige Liebe geschworen, bevor er sich wieder verabschiedet hatte. Ich warf Mum heimlich einen Blick zu, aber sie starrte vor sich hin, ohne sichtbares Zeichen, dass sie hier etwas wiedererkannte oder auch nur interessiert war. Wir traten durch einen Durchgang in eine andere Straße mit viktorianischen Reihenhäusern, in deren Erkern je ein Weihnachtsbaum prangte. Dann blieb Genevieve vor dem Tor einer alten Kirche stehen.
Sie lachte bitter. »St. Jude – der Patron der hoffnungslosen Fälle.«
Ich warf Mum einen Blick zu, um zu sehen, wie sie reagierte, doch auf ihrem Gesicht lag ein zugleich distanzierter und verletzter Ausdruck und ich sagte nichts. Genevieve stemmte das schwere Holztor auf und folgtedem Pfad, der zur Kirche führte. Ich überlegte, ob dies vielleicht eine Art Bewährungsprobe werden und Mum in einer Kirche, die für Genevieve von Bedeutung war, der Prozess für ihr Vergehen gemacht werden sollte. Ein so theatralischer Auftritt war eigentlich ganz Genevieves Stil und auch die Anspielung auf Judas Thaddäus würde dann einen Sinn ergeben. Es war der ideale Ort für eine Beichte. Aber Genevieve steuerte nicht auf den Kircheneingang zu, sondern bog rechts davor an einer Stelle ab, an der ein steinerner Engel stand, der größer war als alle anderen Grabsteine hier.
Es kam mir nicht einmal seltsam vor, meilenweit von zu Hause entfernt und mitten im eiskalten Schnee auf einem Friedhof zu stehen, zumindest nicht seltsamer als alles andere, was sich in jüngster Zeit ereignet hatte. Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch die Gräber, indem ich Genevieves Fußstapfen folgte, und sah zum Himmel hinauf. Die Stare schossen schon herab und bereiteten sich flügelschlagend auf den Einbruch der Dunkelheit vor. Sie sahen aus wie winzige schwarze Kreuze.
Dann blieb Genevieve plötzlich stehen und ich blickte nach unten. Selbst in schneebedecktem Zustand wirkte das Grab zu unseren Füßen vernachlässigt und alle möglichen Unkrautarten drängten sich durch die verschneite Erde. Genevieve bückte sich, klopfte den Schnee von einem Strauß Kunstblumen und ordnete sie sorgfältig neu. Ihr Gesicht wirkte lebendig dabei, doch der Ausdruck darauf war schwer zu deuten. Für gewöhnlich waren ihre Gefühle so heftig, dass ich sie wie ein Buch lesen konnte. Mums Lippen bewegten sich lautlos, als würde sie beten, und ichbegriff, dass sie den Menschen gekannt haben musste, der hier lag. Immer noch war ich die Einzige in dieser Inszenierung, die keine Rolle bekommen hatte. Vielleicht gab ja der Name auf dem Grabstein –
Jessica Myers
– einen Hinweis.
»Wer ist das?«, fragte ich leise.
Genevevieve sah in die Ferne und fing an zu sprechen: »Jessica Myers hatte nicht die geringste Chance. Sie hatte keine Eltern, die sie ins Bett gebracht und ihre Kinderzeichnungen an die Wand geheftet hätten. Sie kam von einer Obhut in die andere, wurde hin und her geschoben wie ein streunender Hund, den niemand wollte, bis sie auf einmal merkte, dass sie schwanger war – damals war sie fast noch ein Teenager und lebte in einer verwahrlosten Wohnung.«
»Ich verstehe nicht …«
»Vielleicht hat sie gehofft, ihrem Leben eine neue Richtung geben zu
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