Besessene
vorzudringen«, behauptete sie. Sie klopfte sich mit der Hand seitlich an den Kopf. »Das hättest du spüren, hättest empfänglich dafür sein müssen. Ich habe dich so sehr geliebt, aber … im Laufe der Jahre habe ich angefangen, dich zu hassen und dir deine Existenz übel zu nehmen.«
»Ich habe aber doch nichts falsch gemacht«, sagte ich wieder. »Warum war ich in deinen Augen die Schuldige?«
Sie streckte ihre Hände aus und sagte wie zu sich selbst: »Am Anfang wollte ich dich nur leiden sehen … und späterwollte ich, dass du vom Erdboden verschwindest. Doch dann hab ich erkannt, dass das hier unsere zweite Chance ist, und jetzt wird alles gut.«
Ich schnappte nach Luft. »Einfach so, ja? Du erwartest einfach so von mir, dass ich dir verzeihe und alles vergesse.«
Sie schien verblüfft zu sein, dass ich mich wehrte. Offensichtlich war für sie die Lage klar.
»Versuch mal, dich in meine Situation zu versetzen, Katy. Ich hatte nichts, du hattest alles. Aber es war sinnlos, dich zu hassen oder wegzujagen. Jetzt erst ist mir klar geworden, dass wir uns niemals mehr entkommen können und uns auch keiner jemals wieder trennen kann.«
Das Ganze lief nicht gut und ihre Worte machten mir echt Angst. Nichts von dem, was sie bisher getan oder gesagt hatte, überzeugte mich davon, dass sie sich noch mal ändern würde. Sie fiel von einem Extrem ins andere: Erst hatte sie mich auslöschen wollen und jetzt legte sie eine besitzergreifende Art an den Tag, die mich erstickte und mich genauso verunsicherte. Und außerdem war da noch Mum. Wie sollte sie das Ganze überstehen?
»Mum war erst einundzwanzig«, versuchte ich ihr zu erklären. »Sie wusste doch noch gar nicht wirklich, was sie tat. Niemand hat ihre Schwangerschaft geahnt und wahrscheinlich war sie total deprimiert …«
»Wieso verteidigst du sie immer noch?«
»Es ist schon eigenartig«, murmelte ich, »wenn sich herausstellt, dass der Mensch, den du am besten kennst und dem du wie niemandem sonst auf der Welt vertraust, auf einmal jemand anders sein soll … jemand, der offensichtlich in der Lage ist, Unvorstellbares zu tun.«
»Sind wir nicht alle anders, als wir scheinen, Katy? Wir tragen doch alle eine Maske und haben Angst, dass wir nicht geliebt werden, wenn wir unser wahres Gesicht zeigen.«
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, um zu fragen, was ich fragen musste. »Deine Adoptiveltern … du hast ihnen doch nichts … getan?«
Ich war nicht sicher, ob Genevieve tatsächlich lächelte oder ob es mir nur so vorkam. »Die beiden waren so grauenhaft … engstirnig und selbstgerecht, ohne einen Funken Liebe oder Freude in ihrem Herzen. Für sie gab es nur Leid, Gehorsam oder Strafe. Sie haben mich an meinem Hausaltar, auf dem zwei brennende Kerzen standen, allein zurückgelassen … ich sollte dafür beten, dass ich mich bessere. Da habe ich ein Fenster aufgemacht … der Vorhang fing gleich Feuer … und das hat sich in Windeseile ausgebreitet.«
Ich schloss die Augen und schickte ein stilles Dankgebet zum Himmel, weil das Feuer offensichtlich keine Absicht gewesen war; trotzdem war der Brand in der Pfarrei damit noch nicht geklärt. »Und seitdem bist du nie wieder dort gewesen?«
»Nein, nie.«
Ich wollte nichts lieber, als ihr glauben, denn die Alternative war zu schrecklich, um sie in Betracht zu ziehen. »Vielleicht musste ja wirklich alles so kommen«, sagte ich trotz meiner Ängste. »Vielleicht war es ja wirklich vorbestimmt, dass wir uns finden und unserer Mutter eine zweite Chance geben.«
»Wir haben die gleiche Mutter, ja, das stimmt«, sagte sie,aber ihr Tonfall klang wie einstudiert. »Und das kann niemand abstreiten.«
»Okay … was jetzt?«
»Ich glaube, es ist Zeit, dass wir sie besuchen, Katy … und zwar zusammen.«
Kapitel 38
G enevieve und ich saßen Seite an Seite auf der Rückbank des Wagens. Hin und wieder fiel ihr der Kopf vor Müdigkeit herunter und blieb auf meiner Schulter liegen, aber ich schob ihn nicht zur Seite. Im Rückspiegel beobachtete ich Mums Gesicht, deren Augen weit aufgerissen waren und gehetzt aussahen und meinen Blick nicht ein einziges Mal erwiderten. Kaum gab es einen Moment, in dem ich alles klarer zu durchschauen schien, entglitt mir die Erkenntnis auch schon wieder wie ein Spielzeugschiff, das in rascher Auf- und Abbewegung weiter auf das offene Meer zutrieb.
Wir waren zu mir nach Hause gegangen, wo ich eine Art Showdown erwartet hatte, der allerdings
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