Bestimmt fuer dich
begann, das auf der Straße liegende Unfallopfer zu filmen.
»Bis da mal jemand kommt, ist doch alles zu spät«, empörte sich eine weitere Stimme.
Lukas befürchtete dasselbe. Und noch während er darüber nachdachte, trugen ihn seine Beine plötzlich vorwärts, zu der Frau auf dem Asphalt. Panische Angst durchströmte seinen Körper. Seine Hände begannen zu zittern. Die Muskeln in seinen Oberschenkeln verkrampften sich. Warum, zum Teufel, war er nicht einfach weitergegangen, so wie viele andere? Warum musste ausgerechnet er hier den Helden spielen? Der Wunsch, umzukehren und einfach wegzurennen, war so stark, dass er ihm beinahe nachgekommen wäre.
Dann aber erreichte er das Unfallopfer. Verwirrt stellte Lukas fest, dass es die Frau aus der Buchhandlung war. Ohne weiter nachzudenken, kniete er sich neben sie, legte seine Hand auf ihren Hals und fühlte nach ihrem Puls. Vergeblich. Als Lukas seinen Kopf auf den Brustkorb der Frau presste, ließ sich auch kein Herzschlag erlauschen. Blut war zwar nicht zu sehen, aber offenbar hatte der Fahrschulwagen die Frau trotz Abbremsens noch mit solcher Wucht getroffen, dass ihre Atmung ausgesetzt hatte.
Und während der Fahrradfahrer die Pizzabude erreichte, um die gewünschte Verpflegung für seinen gemütlichen Nachmittag einzukaufen, begann Lukas bei der Frau auf dem Asphalt eine Herzmassage. Dann hauchte er ihr ein paar tiefe Atemzüge ein.
Die Frau regte sich immer noch nicht. Lukas spürte, wie Tränen in seine Augen schossen. Mit verschränkten Händen drückte er auf die Herzgegend der Frau, immer und immer wieder. Aus der Ferne hörte er endlich näher kommende Sirenen. Aber eine hämische Stimme in seinem Kopf behauptete, dass es für einen Krankenwagen zu spät war. Dass die Frau von Anfang an tot gewesen war. Und dass ganz gewiss nicht er irgendetwas dagegen tun konnte.
Lukas’ Arme schmerzten. Die Stimme in seinem Kopf riet ihm zu einer Pause. Auch die zweite Beatmung schien sinnlos zu sein, eher aufdringlich und anzüglich. Es war vorbei – wann würde Lukas das endlich einsehen? Wann würde er erkennen, dass er nichts, aber auch gar nichts gegen das ausrichten konnte, was hier geschah und irgendwo anders wieder geschehen würde, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde?
Und dann begann Rosanna zu husten. Nach Luft zu schnappen. Durchzuatmen, aus eigener Kraft.
Rosanna öffnete die Augen.
2
Es war eine Ewigkeit her, seit sie sich zuletzt so außerordentlich gut gefühlt hatte. Alle Last der letzten Jahre war plötzlich von ihren Schultern gefallen, Rosanna fühlte sich frei und stark und sogar irgendwie jünger.
»Nein, wir haben Ihnen keine Schmerzmittel gegeben«, beantwortete der Arzt ihre Frage. »Das hat uns ebenfalls überrascht: Sie haben gesagt, Sie hätten überhaupt keine Beschwerden.« Er verzog seinen schmalen Mund zu einer noch dünneren Linie.
»Heißt das, ich bin … gesund?«
Der Arzt seufzte und zog seine Brille ab, um die Gläser mit dem Saum seines weißen Kittels abzuwischen. »Keine inneren Verletzungen. Keine gebrochenen Rippen. Keine Platzwunden, nicht mal am Hinterkopf, wo Sie auf dem Asphalt aufgeschlagen sind.« Er überlegte. »Vielleicht eine kleine Gehirnerschütterung …«
»Aber ich dachte, der Wagen hat mich erwischt. Und ich war doch bewusstlos. Mit Atemstillstand, hat man mir gesagt.«
Der Arzt nickte und murmelte etwas von Schockzustand und einer möglichen Auswirkung des Aufpralls.
Rosanna legte ihren Kopf zurück auf das Kissen des Krankenbetts und lachte ungläubig auf. Sie hatte genau gespürt, wie der Kühler des Wagens ihren Körper getroffen und rückwärts geschleudert hatte. In diesem Moment hatte sie gedacht: Nun ist es vorbei. Dass sie keinen Schmerz verspürte, hatte sie nicht irritiert, sondern in der Annahme ihres bereits stattfindenden Ablebens bestärkt. Danach erinnerte sich Rosanna nur noch an Dunkelheit. Bis sie die Augen geöffnet und in das Gesicht dieses weinen den Mannes gesehen hatte, dessen Bartstoppeln wohl für das Kitzeln um ihre Mundpartie verantwortlich waren.
»Wer weiß, vielleicht … wenn Sie einen Schritt weiter vorn gestanden hätten oder schon auf der Straße …«, sagte der Arzt mit einem ratlosen Schulterzucken.
Rosanna versuchte sich zu erinnern. Sie hatte doch bloß vorgehabt, die Straße zu überqueren. Sie war nicht einfach … auf die Straße getreten, oder? Egal, wie unglücklich sie gewesen war – sie hatte nicht vorgehabt, auf den passenden Moment zu
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