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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
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mit Cory in den Elgin-Saal gehen? Sie mag die Skulpturen doch so, und wir können reden, ohne dass Vater etwas mitbekommt.
    Calliope seufzte. Ihr Vater würde ihnen im British Museum nicht zuhören, aber dafür halb London. Doch Clio hatte recht: Nach dem gestrigen Abend mussten sie ihre Gedanken ordnen, und welche Umgebung konnte sich dafür besser eignen als die erhebenden Friese und Statuen des Parthenons? Terpsichore – Cory – war gerade dreizehn geworden und sehnte sich danach, endlich als junge Dame behandelt zu werden. Sie war erst kürzlich von ihren jüngeren Geschwistern getrennt worden, die mit ihren Kindermädchen und Gouvernanten auf dem Land lebten, und verdiente eine kleine Belohnung.
    Und im Museum würde ihr Lord Westwood bestimmt nicht über den Weg laufen. Der Mann stand gewiss erst nachmittags auf, und die Skulpturen, die Lord Elgin aus Griechenland nach London geschafft hatte, mussten ihm zutiefst verhasst sein.
    „Mary, ich brauche ein Ausgehkleid und den warmen Mantel“, sagte sie und stürzte den Rest ihrer Schokolade hinunter. „Und mein Schoßpult. Ich will den Mitgliedern unserer Gesellschaft schreiben.“
    Sie mussten sich einen Schlachtplan zurechtlegen.
    Das British Museum war so etwas wie das zweite Zuhause des Chase-Musen. Seit ihrer frühsten Kindheit waren sie von den Eltern hierhin mitgenommen worden, hatten sich peu à peu mit den Räumen vertraut gemacht und dank der lebendigen Erzählungen ihres Vaters eine tiefe Zuneigung zur Antike und den schönen Exponaten gefasst. Viele ihrer Lieblingsstücke – griechische Vasen, ägyptischen Skulpturen, Wikingerhelme – waren im Skizzenbuch der Mutter festgehalten, das Clio wie ihren Augapfel hütete, seit ihre Mama vor drei Jahren bei der Geburt der jüngsten Muse Polyhymnia gestorben war.
    Aber den Saal, der den Schwestern der liebste von allen war, hatte ihre Mutter nie kennengelernt, da die Elgin-Sammlung erst nach ihrem Tod „vorübergehend“ hier ausgestellt worden war. Mittlerweile hatte sie den Charakter einer Dauereinrichtung angenommen.
    Als sie die breite Treppe hinaufschritten und die gigantischen Säulen passierten, um in dieses Allerheiligste zu gelangen, bettelte Cory: „Können wir uns nachher noch die Mumien ansehen?“
    Clio lachte. „Du makabres Kind! Du bist doch nur auf Gruselgeschichten aus, mit denen du deine kleinen Schwestern erschrecken kannst. Aber gut, wenn genug Zeit bleibt …“
    Cory rümpfte die Nase. „Also nicht. Ihr bleibt doch immer Stunden hier.“
    „Als würden dir die Skulpturen nicht auch gefallen, mein Äffchen“, sagte Calliope. „Vielleicht können wir nach den Griechen und den Ägyptern noch ein Eis essen gehen.“
    Beglückt durch die Aussicht auf Mumien und etwas Süßes sprang Cory davon, um wieder einmal ihre Lieblingsskulptur zu zeichnen: den Kopf eines Pferdes vom Wagen der Mondgöttin, dessen feuchte Mähne nach den Anstrengungen der Reise über den Himmel schlaff herabhing. Calliope und Clio schlenderten zur Rückwand, an der ein Fries hing, der eine Festtagsprozession zeigte. Trotz des stetigen Besucherstroms, der an den riesigen Statuen des Theseus und einer kopflosen Göttin im Faltengewand vorbeizog, ging es hier relativ ruhig zu.
    Calliope blickte zu einer Reihe junger Frauen in wunderschönen Chitonen und Umhängen auf, die mit natürlicher Anmut Gefäße und Schalen für ein Trankopfer trugen. Sie wurden nicht so präsentiert, wie sie es verdient hätten: Der Raum war mit Ausstellungsstücken vollgestopft, die Fenster waren zu klein, die Wände zu dunkel. Calliope ging beim Anblick ihrer klassischen, unvergänglichen Schönheit dennoch jedes Mal das Herz auf, und heute war sie wegen der Schatten unter ihren Augen sogar froh, dass es hier so düster war.
    „Morgen Nachmittag trifft sich unsere Gesellschaft“, erklärte sie Clio.
    Clio wandte den Blick nicht von der Leitfigur der Prozession, die ein Weihrauchgefäß vor sich in die Höhe hielt, aber das leichte Lächeln schwand von ihren Lippen. „Schon wieder? Normalerweise tagen wir doch wöchentlich.“
    „Die Sache duldet keinen Aufschub. Der Ball des Duke of Averton steht kurz bevor. Wir müssen uns vorbereiten.“
    „Glaubst du immer noch, dass … besagte Peron vorhat, an dem Abend die Alabastergöttin zu stehlen?“
    „Ich weiß es nicht. Wir müssen uns auf alles gefasst machen, auch darauf, dass nichts passiert. Der Ball kann ganz friedlich ausgehen – na ja, so friedlich, wie ein Fest in Avertons

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