Betörend wie der Duft der Lilien
verbargen. Seine Reaktion verriet, dass er diese seltsame, zarte Verbindung ebenfalls spürte.
„Na also, das war gar nicht schwer, oder?“ Lächelnd führte er sie zur Ecke des Saals, wo der Fries an der nächsten Wand fortgeführt wurde. Dort sah man das Ziel der Prozession: Athene, die im Profil dasaß und die Opfergaben begutachtete. Ihr gelocktes Haar war nicht, wie sonst, unter einem Helm verborgen; auf ihrem Schoß lag ein Schild, und in der Rechten hielt sie einen Speer.
„ Das ist Ihre Lieblingsfigur?“, fragte Calliope. „Ich hätte eher auf einen der Lapithen oder Kentauren auf der Metope getippt, die trunken das Fest stören. Oder auf Dionysos da drüben in seinem Leopardenfell.“
Er lachte. „Also bitte, Miss Chase! Ich schätze zwar die Genüsse, die das Leben zu bieten hat, aber ein Kentaur bin ich nun wirklich nicht. Oder ein Dionysos. Denken Sie nur an die Orgien, über die wir gestern sprachen: Seine Feste laufen oft völlig aus dem Ruder; am Ende reißen die Teilnehmer einander Gliedmaßen aus und verschlingen das rohe Fleisch. Nein, danke, Kannibalismus ist nichts für mich.“
Calliope spürte, wie sich schon wieder eine peinliche Röte über Hals und Wangen ausbreitete. „Ich habe nie geglaubt, dass Kan nibalismus zu Ihren Lastern zählt, Lord Westwood. Aber warum mögen Sie diese Athene so sehr? Sie wirkt auf mich zu rational und beherrscht, um zu Ihnen zu passen.“
„Eben darum: wegen ihrer Gelassenheit und Würde. In meinem Leben hat es daran immer gemangelt, während ich mit meinen Eltern von Pontius zu Pilatus zog. In dieser Marmorskulptur finde ich, wonach ich suche.“
Calliope blinzelte ungläubig. Ein derart vertrauliches Bekenntnis hatte sie von Cameron de Vere nun wirklich nicht erwartet, trotz des Waffenstillstands. In seinem schönen Gesicht hatte eine entrückte Sehnsucht die übliche Ironie vertrieben.
„Sie ähneln ihr übrigens sehr“, setzte er hinzu.
„Ich?! Athene hätte sich nie erdreistet, Sie bei einem Musikabend zu beleidigen.“
„Nein, sie hätte mich gleich mit ihrem Speer niedergestreckt. Ich bin froh, dass Sie keine solchen Waffen tragen. Ihre Zunge ist schon spitz genug.“
Bevor Calliope etwas erwidern konnte, breitete sich Unruhe in der Menge aus. Calliope drehte sich um und sah, dass der Duke of Averton den Saal betreten hatte.
Er war unleugbar ein gut aussehender Mann. Groß, schlank, mit üppigem rotgoldenen Haar, das im gedämpften Licht schimmerte, und leuchtend grünen Augen, die die Umgebung mit raschen, durchdringenden Blicken musterten. Der einzige Missklang in seinem Gesicht war die leicht verunstaltete Nase, die vermutlich gebrochen gewesen und schief geheilt war. Sein auffälliges, fast keltisches Aussehen unterstrich er noch durch seine farbenfrohe Aufmachung: ein langes Cape, das er anstelle des üblichen Wollmantels trug, eine gelbe Satinweste, Stiefel mit goldenen Quasten und mehrere Ringe an den Fingern, die mit Rubinen und Smaragden besetzt waren.
Der Duke verharrte, bis er sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher war, und entledigte sich dann mit großer Geste seines Umgangs, den einer der Lakaien in Empfang nahm, die hinter ihm aufgereiht waren.
„Ah, die Herrlichkeiten Griechenlands, der Geist der Antike – immer wieder erhebend.“ Seine Stimme war nicht laut, aber so sonor, dass sie durch den ganzen Saal trug. Er stolzierte auf den bemalten Metopenstein zu, sein Gefolge im Schlepptau.
Calliope hätte beinahe laut aufgelacht. Der eigenbrötlerische Duke of Averton ließ sich selten in der Stadt blicken; gerade deshalb war sein Ball überall im Gespräch. Aber wenn er irgendwo auftauchte, war er unterhaltsamer als eine Theateraufführung in der Drury Lane.
„Lächerliche Kröte“, murrte Lord Westwood. „Was soll diese Schau?“
Calliope bemerkte, dass er die schlanken Hände zu Fäusten geballt hatte. Wohin war der heitere Apoll verschwunden? Jetzt sah Westwood eher einem übellaunigen Gott der Unterwelt ähnlich, der den Duke am liebsten stückweise an seinen zähnefletschenden Zerberus verfüttert hätte.
Dieser Vorstellung konnte Calliope durchaus etwas abgewinnen. Unter allen selbstsüchtigen Sammlern Londons, all diesen Leuten, die Schätze anhäuften und keinem Gelehrten je die Chance gaben, die Objekte zu untersuchen, war Averton der übelste. Er scherte sich nie darum, ob die Verkäufer überhaupt die rechtmäßigen Besitzer waren, und ließ die wertvollen Stücke unweigerlich in seiner Festung in
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