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Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
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Foyer dieses Hauses entdeckt hatte. Sie hatte das schelmische Lächeln des Gottes gemocht, das den kalten Marmor so lebendig wirken ließ. Wie hatte sie sich darauf gefreut, Hermes wiederzusehen!
    Doch er war nicht mehr da. Seine Nische war leer, wie alle anderen, in denen einst feinste Vasen und Kelche gestanden hatten. Während ihr Vater und ihre Schwestern sich bereits im Salon unter die Leute mischten, stand sie noch wie vom Blitz getroffen vor der leeren Nische. Ihre Pläne für diesen Abend – die Antiquitäten bewundern, den neuen Earl kennenlernen, mit ihm über seine Schätze reden und vielleicht den Grundstein für eine Freundschaft legen – waren dahin. Und nichts mochte Calliope weniger als gescheiterte Pläne.
    Plötzlich erklang hinter ihr eine tiefe, samtige und leicht ironische Stimme: „Ah, wenn das nicht die vermisste Miss Chase ist!“
    Calliope sah über die Schulter. Wenige Schritte hinter ihr stand ein Mann, dessen sinnliche Lippen sie sofort an den fehlenden Hermes erinnerten. Die sandfarbenen Kniehosen, der dunkelblaue Rock und die hellgraue Brokatweste standen ihm ausgezeichnet; das einfach gebundene Krawattentuch schmückte eine Kameenbrosche. Und doch wirkte er, als wäre er in diesem luxuriösen Foyer am falschen Platz: Die Haut war zu braun gebrannt, das glänzende, dunkle Haar zu lang. Seine blitzenden braunen Augen kamen ihr seltsam vertraut vor.
    „Sie müssen Lord Westwood sein“, erwiderte sie kühl, um den Tumult zu überspielen, den sein Auftritt in ihrem Inneren ausgelöst hatte. So hatte sie sich diese Begegnung nicht vorgestellt!
    „So ist es.“ Er trat näher – so nah, dass ihr der schwachen Zitronenduft seines Eau de Cologne in die Nase stieg und sie die Hitze zu spüren meinte, die seine Haut ausstrahlte. Sie wich in Richtung der beruhigend kühlen Marmorwand aus.
    „Hier stand früher eine Hermesbüste.“ Sie schluckte, um das plötzliche Beben aus ihrer Stimme zu verbannen. „Ein wunderschönes Stück.“
    „Wunderschön“, bestätigte er, wobei sein Blick irritierenderweise nicht auf die Nische, sondern fest auf Calliopes Gesicht gerichtet war. „Ich habe es nach Griechenland zurückgebracht, wo es hingehört.“
    In diesem Moment war sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie niemals Freunde werden würden …
    „Miss Chase? Sind Sie zufrieden?“ Calliope zuckte zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie sah in den Spiegel und fand ihre Wangen auffällig gerötet – als hätte sich die Szene im Foyer nicht vor Wochen, sondern vor Sekunden zugetragen.
    Aber ihr Haar saß perfekt: wie üblich in einem verschlungenen Knoten zusammengehalten und mit den verbliebenen Rosen geschmückt, das Gesicht von zwei ordentlichen Locken eingerahmt.
    „Sehr schön, Mary.“ Das Mädchen nickte und holte Stola und Schuhe. Calliope griff nach ihren Ohrringen und versuchte, Cameron de Vere zu vergessen. Er war nur ein irregeleiteter Rebell – allerdings ein gut aussehender. Als der Butler klopfte, weil die Kutsche vorgefahren war, hatte sie sich wieder im Griff.
    „Wenn Lady Russells Gefieder noch etwas länger wäre, würde sie abheben wie ein hysterischer Papagei“, flüsterte Clio ihr ins Ohr.
    Calliope hielt sich die Fingerspitzen vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Tatsächlich sah die Gastgeberin des musikalischen Abends mit ihrem violett-grünen Satinturban und den daraus sprießenden regenbogenfarbenen Federn einem Ara nicht unähnlich. Typisch Clio: Sie war meist so schweigsam, dass man ihre Anwesenheit leicht vergaß – bis sie, deren scharfen grünen Augen nichts entging, sich mit einer sarkastischen Bemerkung in Erinnerung brachte. Vergleiche mit Urwaldtieren waren für ihre Verhältnisse geradezu harmlos.
    Clio und Calliope ließen die Blicke durch den Raum schweifen und fanden weitere Beispiele für modische Fragwürdigkeiten, über die zu lästern sich lohnte. Obwohl griechische Musik den größten Teil der Londoner Gesellschaft nicht gerade in Begeisterung versetzte, war es relativ voll, denn Lady Russell war beliebt. Eigentlich hätte Calliope ganz in ihrem Element sein müssen, doch sie war immer noch unkonzentriert.
    Neben ihr nahm Clio ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Im Gegensatz zu Calliope, die sich wie üblich für schlichten weißen Musselin im griechischen Stil entschieden hatte, trug sie ein smaragdgrünes Seidenkleid mit goldenen Stickereien, und ihr rotbraunes Haar wurde von einem ebenfalls goldfarbenen Band

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