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Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)

Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)

Titel: Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Bartel
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Steffen und mich.
    Wir halten den Atem an, die Welt natürlich nicht. Der Fluss fließt stinkend weiter, die verhaltensgestörten Möwen kreischen über unseren Köpfen herum. Wegen der Straßenbeleuchtung ist für sie immerwährender Tag und das macht sie vollkommen kirre.
    Sie rufen sogar: »Kirre«. Immer wieder.
    Rieke rudert mit den Armen, als wolle sie losfliegen. Will sie wahrscheinlich auch, kann sie aber nicht. Irgendwann öffnet sie den Mund, aber es kommt zuerst nichts heraus, und was dann schließlich herausgellt, ist nicht ihre Stimme, es klingt höher und viel schriller. Rieke ist eine dieser hysterischen Möwen geworden. Irgendwas hat sie verrückt gemacht.
    Sie schreit, dass sie echt nicht mehr weiß, was sie noch machen soll. Sie will einfach nur noch weg, weil sie uns satthat. Sie hat es satt, jeden Morgen aufzustehen und überlegen zu müssen, was wir beiden Idioten als Nächstes anstellen würden. Wir nähmen ihr die Luft zum Atmen, schreit sie, und von ihr aus sollten wir doch beide springen, das seien ja nur zehn Meter, ihrethalben auch fünfzehn, mit etwas Glück überlebten wir das schon und würden rausgefischt. Aber dann sei sie hoffentlich schon über alle Berge und wenn schon nicht in Israel, dann wenigstens irgendwo anders – wo, das sei ihr mittlerweile scheißegal.
    »Hauptsache weg von euch beiden Clowns«, brüllt sie.
    Da bin ich dann auch auf die andere Seite des Geländers geklettert.
    Aber Steffen ist, wie gesagt, zuerst gesprungen, ich wollte ihn bloß nicht alleinelassen und vielleicht auch Rieke eins auswischen.
    Unsinn. Der Wettkampf war noch nicht vorbei und ich wollte auf keinen Fall verlieren.
    Was für eine Scheißidee, ist mein letzter Gedanke, dann trifft mich das Wasser wie eine Dampframme. Es rauscht in meinen Ohren, mein ganzer Körper brennt, ich sacke in die Tiefe, der Druck schmerzt erst im Kiefer und schließlich im ganzen Kopf.
    Dann wird alles still.
    An dieser Stelle würde man nun die inspirierende Schilderung einer Nahtoderfahrung erwarten. Ich hätte über eine lichte Blumenwiese schreiten können, oder durch einen dunklen Tunnel zu einem grellen Licht schwimmen können, verstorbene Verwandte mit silbrigem Haar hätten mich gütig lächelnd empfangen, mir sanft ihre Hand auf die Schulter gelegt und sagen können: »Junge, es ist noch zu früh. Du bist noch nicht an der Reihe.«
    Da war aber nichts. Gar nichts. Es war bloß kalt, dunkel und nass. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern, an das brackige Wasser, das sich durch Lippen und Nase drückte, an mein Hemd, das sich wie ein Fallschirm über meinem Kopf aufblähte und mir schließlich von den Armen gerissen wurde.
    Sonst war da nichts, außer mir und dem Wasser. Ich saß mutterseelenallein in meinem Körper, der sich von den Wassermassen oder vom Aufprall furchtbar gequetscht anfühlte, und dachte: »Guck mal an. Jetzt bist du Vollidiot doch echt von der Brücke gesprungen. Mann, Mann, Mann.«
    Mehr habe ich nicht gedacht. Das ist leider wahr. Kein plötzliches Aufblitzen von Lebensweisheit, keine philosophische Erkenntnis unter akuter Lebensgefahr, keine kathartische Wende. Nichts, was sich heute gewinnbringend als Läuterung vermarkten ließe. Natürlich drehe ich es mittlerweile doch so hin, aber nur, weil die Leute so enttäuscht sind, wenn man ihnen Grenzerfahrungen ohne Pointe serviert. Sie drehen sich dann um und reden lieber wieder über den Film, den sie gerade gesehen haben. Ich sage dann immer, dass ich dort unten erstmals echten, unbändigen Lebenswillen verspürt hätte, aber nicht einmal das stimmt.
    Ich habe einfach angefangen, Schwimmbewegungen zu machen, und war irgendwann wieder oben.
    Natürlich bin ich in den Nährungsstrom zwischen den Pfeilern geraten, wir sind nämlich blöderweise von der flussaufwärts gelegenen Seite gesprungen und das sollte man nur tun, wenn man wirklich ertrinken will. Der Sprung ist, wie gesagt, nicht das Problem.
    Und als ich dann von den biestigen Strudeln hin und her geworfen wurde, muss ich wohl wirklich um mein Leben gekämpft haben, aber es war keine besonders intensive Erfahrung, ich war physisch viel zu herausgefordert, um Angst zu haben. Ich habe einfach versucht, oben zu bleiben.
    Ich werde gegen die glitschige Betonwand der Brückenpfeiler gedrückt, wieder hinuntergezogen und komme am anderen Pfeiler wieder hoch, dann erfasst mich die Hauptströmung, ich kämpfe mich irgendwann in Richtung Fahrrinne vor und lasse die Brücke hinter mir.
    Dort

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