Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
hineinzugucken.
»Hat sich nur nicht durchgesetzt, weil es dafür keine Pornos gab«, erzählen sie kennerisch und referieren ungefragt über den Formatkrieg zwischen Betamax, Video 2000 und VHS.
Wir haben einfach zu viele »conversation items« in unserer Bude. Man kann kein normales Gespräch mehr führen, deswegen lege ich irgendwann fiese Krachmusik auf, drehe Helmuts Anlage hoch und fange an zu pogen, bis unsere Gäste mitmachen oder nach Hause gehen.
Aber nicht vor 22 Uhr, denn so steht es in der Hausordnung. Um 22 Uhr stellt Oma Wittrich ihr Hörgerät ab und geht ins Bett. Dann könnten wir von ihr aus machen, was wir wollten, hat sie gemeint und uns sehr merkwürdig angeguckt. Sie hält uns ganz offensichtlich für schwul.
Oma Wittrichs Hausordnung umfasst dreiundzwanzig Seiten und ist in Sütterlin geschrieben, deswegen haben wir Tage gebraucht, um alle Details zu entziffern. Leider hatten wir da schon unterschrieben.
»Eine richtige Wohnung, vollkommen mietfrei«, waren unsere letzten Worte. »Was kann da noch schiefgehen?« Wir haben Oma Wittrich aber vollkommen unterschätzt, weil sie uns anfangs sehr gekonnt das senile Hutzelömchen vorgespielt hat. Sie hat uns ausgetrickst und jetzt gehören unsere Ärsche ihr. Das ist ein Zitat.
»Jetzt gehören eure Ärsche mir«, hat sie gleich nach der Unterschrift gesagt und in ihren Eierlikör gekichert.
Eierlikör mag sie sehr gerne. Sie ernährt sich von kaum etwas anderem, und wir sind für Beschaffung und Anlieferung zuständig. Außerdem müssen wir ihre Wohnung putzen und mit ihr zum Friedhof gehen, da liegen nämlich ihr Helmut und ihr Mann.
Kein Ding, sollte man denken, kann man alles machen. Stimmt ja auch.
Das eigentliche Problem heißt: Scrabble.
Oma Wittrich liebt Scrabble, und wir sind ihre Sparringspartner. Damit sie in Form bleibt, müssen wir jeden Tag zwei Stunden mit ihr spielen, so steht es in der Hausordnung. Und das ist noch schlimmer, als es sich anhört, denn Oma Wittrich spielt mit der ganzen Härte einer schlesischen Kriegerwitwe, die im Krieg alles verloren hat und es sich auf dem Brett Buchstabe für Buchstabe zurückerobern will.
Außerdem kann sie nicht verlieren.
Sie kann ja nicht mal zugeben, dass die Deutschen den Zweiten Weltkrieg verloren haben.
Und wenn Oma Wittrich beim Scrabblen hintenliegt, startet sie Verzweiflungsoffensiven und kündigt großspurig Geheimwaffen an. Meist legt sie dann Worte, die ausschließlich aus teuren Konsonanten bestehen, und gibt sie als heutige Namen ehemals blühender, jetzt aber angeblich vollkommen heruntergewirtschafteter Ortschaften im Osten aus, obwohl sich Oma Wittrich sonst strikt weigert, deren polnische Namen zu benutzen. Überhaupt hinkt sie zeitgeschichtlich ziemlich hinterher, sie sagt sogar SBZ, obwohl es nicht mal mehr die DDR gibt.
In der Regel klingen die Namen aber eher walisisch, so wie »Cwmfrwdd«, und wenn man damit auf dreifachen Wortwert kommt, hat man so gut wie gewonnen.
Wenn das nicht hilft, wirft sie das Spielbrett herunter.
Einmal haben wir versucht, mit ihr »Risiko« zu spielen. Aber die bedingungslose Grausamkeit, mit der sie ihre Feldzüge führte, hat uns irritiert. Außerdem hat sie nach ihrem sechsten Eierlikör angefangen, wieder an den Endsieg zu glauben.
Sonntags besuchen sie ihre Freundinnen und dann verwandeln sie die Wohnung in ein Armageddon des Brettspiels. Der Kessel von Stalingrad ist ein Kindergeburtstag dagegen. Dieser Kessel ist übrigens hauptsächlich schuld daran, dass es eine reine Damenrunde ist. Der und ein paar Herzinfarkte.
Die Damen trinken Eierlikör und haben einen Wall aus Wörterbüchern um sich herum aufgebaut, außerdem ein Verzeichnis aller Autokennzeichen und das Lexikon internationaler Abkürzungen aufgeschlagen. Die gelten nämlich auch, weil man damit in die kleinen Lücken etwas legen kann, in die keine richtigen Wörter mehr reinpassen, außer »Ei« mit E und »Ai« mit A, was ein südamerikanisches Faultier ist, aber das weiß ich längst, weil Oma Wittrich es in jedem Spiel bestimmt fünfmal legt.
»Helmut«, brüllt Oma Wittrich wieder herauf. Sie hat furchtbar schlechte Laune, weil sie das Turnier am letzten Sonntag verloren hat, obwohl wir am Samstag fünf Stunden lang trainiert hatten.
Tante Matthes und ich waren zum Schnittchendienst abkommandiert worden, während Endgegnerin Regine Eimermann und Oma Wittrich einander mit unbewegter Miene gegenübersaßen, ohne sich auch nur einen Moment aus den Augen
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