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Betrug und Selbstbetrug

Betrug und Selbstbetrug

Titel: Betrug und Selbstbetrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Trivers
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und Artefakte aus der Vergangenheit ist. Anfang der 1970 er Jahre jedoch kristallisierte sich aus der Biologie eine starke Gesellschaftstheorie heraus, und nun beschäftigte man sich zum ersten Mal ernsthaft mit einer ganzen Reihe von Themen: mit der Verwandtschaftstheorie einschließlich der Beziehungen zwischen den Eltern und ihrem Nachwuchs, mit relativen elterlichen Investitionen und der Evolution von Geschlechterunterschieden, mit dem Geschlechterverhältnis, gegenseitigem Altruismus, Gerechtigkeitsgefühl und so weiter. Jetzt hatten die Sozialanthropologen die Wahl: Sie konnten die neuen Methoden anerkennen, zu beherrschen lernen und ihr eigenes Fachgebiet entsprechend neu ausrichten, oder die neuen Arbeiten zurückweisen und ihre eigenen Fachkenntnisse schützen (was auch geschah). Jemand bemerkte dazu: »Angesichts der Alternative zwischen einer Veränderung der eigenen Einstellung und dem Beweis, dass sie nicht nötig ist, machen sich fast alle eifrig an den Beweis.« Das gilt wahrscheinlich nirgendwo so sehr wie unter Akademikern.
    Betrachten wir einmal, in welchem Dilemma ein Sozialanthropologe steckt. Er hat 20 Jahre seines Lebens investiert, um die Sozialanthropologie zu beherrschen. Dabei hat er die Biologie völlig außer Acht gelassen. Jetzt steht er vor der Entscheidung: Soll er die Biologie anerkennen (schmerzhaft), drei Jahre investieren, um sich auf den neuesten Stand zu bringen (nahezu unvorstellbar), und dann mit Leuten in Konkurrenz treten, die 20 Jahre jünger und besser ausgebildet sind (unmöglich) – oder soll er das Letzte aus dem alten Pferd herausholen und die Sozialanthropologie mit der Peitsche vorantreiben, bis sie blutet? Selbst in der Physik gibt es den berühmten Ausspruch, das Fachgebiet komme mit jedem Begräbnis weiter voran – denn erst mit dem Tod stirbt auch die Einstellung. Dabei fällt auf, dass der Mittelweg nicht beschritten wurde. Man hätte auch sagen können: »Ich werde nicht ganz von vorn anfangen; dazu ist es zu spät. Aber ich werde dafür sorgen, dass meine Studenten etwas Nützliches über die neuen Erkenntnisse der Biologie lernen (oder sie mir sogar beibringen), während ich weiterhin meine Arbeit verrichte.« Völlige Ablehnung riecht nach Selbsttäuschung. Unverhohlenes Leugnen ist der einfachste unmittelbare Weg, aber es ist auch mit immer höheren Kosten verbunden, die jetzt schon von der dritten Generation bezahlt werden müssen und es immer schwieriger machen, jeder neuen Welle des Leugnens zu widerstehen.
    Natürlich haben sich die Sozialanthropologen der Herausforderung gestellt und ihrem Fachgebiet sogar einen neuen Namen gegeben: Mit dem Begriff »Kulturanthropologie« wollen sie die Biologie noch ausdrücklicher im Vorhinein ausschließen. Demnach sind wir heute keine sozialen Lebewesen mehr, sondern kulturelle. Die Rechtfertigung war moralischer Natur. Man lehnte die biologische Denkweise ab, weil sie den biologischen Determinismus (die Vorstellung, die Genetik habe Einfluss auf das Alltagsleben) hervorgebracht hat, zu dessen Weiterungen dann Faschismus, Rassismus, Sexismus, Heterosexismus und andere anrüchige »Ismen« gehören. Jede Erwähnung der natürlichen Selektion impliziert, dass es Gene gibt und dass sie vielleicht sogar nützlich sind, aber das war aus den gerade genannten moralischen Gründen verboten. Damit wurde ein ganz neues Gebiet der Gesellschaftstheorie nicht zugelassen, weil seine Grundannahmen angeblich schädliche Auswirkungen hatten, wobei diese Grundannahmen aber allgemein als wahr anerkannt waren (Gene existieren, sie haben Einfluss auf soziale Merkmale, ihre relative Häufigkeit verändert sich durch natürliche Selektion, und daraus ergeben sich sinnvolle Gesetzmäßigkeiten). Was bleibt noch übrig, wenn wir die Biologie aus dem Sozialleben der Menschen herausnehmen? Worte. Noch nicht einmal Sprache, denn die ist natürlich zutiefst biologischer Natur, sondern nur Worte, die dann magische Kräfte ausüben, jeden unserer Gedanken einseitig beeinflussen können und die ganze Wissenschaft zu einem von vielen willkürlichen Gedankengebäuden degradieren.
    Und was war das Ergebnis von alledem? 35 vergeudete Jahre, und es werden immer noch mehr. Jahre, die man vergeudet hat, weil Sozialanthropologie und physische Anthropologie nicht zusammengeführt wurden. Starke Menschen begrüßen neue Ideen und machen sie sich zu eigen. Schwache Menschen laufen vor neuen Ideen davon oder erwecken zumindest diesen Eindruck; dann werden

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