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Betrug und Selbstbetrug

Betrug und Selbstbetrug

Titel: Betrug und Selbstbetrug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Trivers
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Bedürfnissen des Kindes erwachsen, beging Freud also den klassischen Fehler von Leugnung und Projektion – er leugnete die unangemessenen sexuellen Annäherungsversuche männlicher Verwandter an junge Frauen (die seine Patientinnen ihm beschrieben) und stellte sich stattdessen vor, die Frauen würden wollüstig auf genau solche Formen des Geschlechtsverkehrs warten.
    Ebenso war er begriffsstutzig, was schlechte Behandlung durch die Eltern als Ursache für Fehlfunktionen bei den Kindern anging. Auch hier neigte er dazu, dem Opfer die Schuld zu geben. Eine der berühmtesten Fallstudien Freuds war die von Daniel Schreber, der seit seiner Jugend psychotisch und institutionalisiert war: Er hatte das Gefühl, körperlich gefoltert, gefesselt und festgebunden zu werden, und war nicht in der Lage, seine Ängste unter Kontrolle zu halten. Freud führte das ganze Krankheitsbild darauf zurück, dass das Kind nicht richtig herangereift sei und noch in einem frühen Entwicklungsstadium stecke, aber er berücksichtigte nie, welche Rolle der Vater dabei möglicherweise gespielt hatte – er spricht von ihm sogar in freundlichem Ton als einem höchst angesehenen Pädagogen, der zahlreiche Bücher geschrieben habe; in Wirklichkeit war dieser Moritz Schreber ein sadistischer Erzieher und Vater: Er sprach sich dafür aus, Kinder nachts ans Bett zu fesseln und eine Reihe anderer Foltermethoden anzuwenden, alles im Namen einer guten geistigen Haltung. Leider wandte er seine Theorie auch auf seine eigenen Kinder an. Ein Sohn beging Selbstmord; der andere überlebte, wurde institutionalisiert und veröffentlichte einen autobiographischen Bericht über seine Psychose, der Freud als Grundlage seiner Fallstudie diente. 7
    In welchem Umfang Freuds in jungen Jahren gepflegte Gewohnheit des Kokainmissbrauchs zu einer Triebkraft für seine vollmundigen Behauptungen wurde, lässt sich nicht mehr feststellen, aber er glaubte sicher auch leicht an andere Phantasiegebilde, beispielsweise daran, dass die Zahl 29 im Leben der Menschen eine immer wiederkehrende, entscheidende Rolle spiele oder dass man Gedanken augenblicklich und ohne elektrische Gerätschaften über große Entfernungen übertragen könne, und so weiter. Wirklich außergewöhnlich ist, dass er einen Kult aufbauen konnte, dem sich weite Bereiche der Psychiatrie und Psychologie unterordneten, und dass er damit eine Beschäftigung für Generationen ähnlich denkender Menschen schuf, die hohe Honorare dafür kassierten, dass sie viermal in der Woche das Leben derer, mit denen sie sich unterhielten, falsch interpretierten.
    Nachdem Freud 30 Jahre theoretisiert hatte und gefragt wurde, ob es nicht vielleicht an der Zeit für eine experimentelle Überprüfung sei, fasste er seine eigene Einstellung gegenüber der empirischen Verifikation sehr hübsch zusammen. Freud räumte zwar ein, Experimente könnten keinen Schaden anrichten, aber er sagte:
    Die Fülle zuverlässiger Beobachtungen, auf denen diese Behauptungen beruhen, machen sie unabhängig von einer experimentellen Verifikation. 8
    Eine solche Behauptung ist ungewöhnlich, lässt jedoch darauf schließen, dass gegenteilige Belege nicht als echte Belege zählen dürfen. Oder anders ausgedrückt: Experimentelle und psychoanalytische Wahrheiten sind voneinander unabhängige Welten. Betrachten wir zum Vergleich einmal die Haltung des berühmten Physikers Richard Feynman:
    Wie schön die Vermutung ist, wie klug derjenige ist, der sie anstellt, oder wie berühmt er ist, spielt keine Rolle; wenn das Experiment nicht mit der Vermutung übereinstimmt, ist die Vermutung falsch. So einfach ist das.
    Selbsttäuschung verfälscht Fachgebiete
    Wie wir erfahren haben, kann Selbsttäuschung auf vielerlei Weise die Struktur der verschiedensten wissenschaftlichen Fachgebiete verfälschen. Auf der Hand liegt dies in der Evolutionsbiologie und den Sozialwissenschaften, wo sich die Entwicklung der Disziplin in dem Maß verlangsamt, wie ihre Bedeutung für das Sozialverhalten der Menschen zunimmt, was zum Teil daran liegt, dass solche Fachgebiete ihren Vertretern einen stärkeren Anreiz zur Selbsttäuschung bieten. Ein verbreitetes Vorurteil besagt, Leben müsse sich von Natur aus so entwickeln, dass es Funktionen auf immer höheren Ebenen ermöglicht: Nicht Gene, sondern Individuen, nicht Individuen, sondern Gruppen, nicht Gruppen, sondern biologische Arten, nicht biologische Arten, sondern Ökosysteme, und mit ein wenig zusätzlicher Anstrengung nicht

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