Betrug und Selbstbetrug
Weibchen, das die Wahl trifft) beantwortet werden. Vielleicht verbreiten sich durch den Erfolg aggressiver Männchen nur die Gene für Aggressivität, die ansonsten für die Spezies (bzw. für die weiblichen Nachkommen) nutzlos sind. Jedenfalls trampeln männliche See-Elefanten während ihrer Kämpfe um die Weibchen, die sich auf den Paarungsinseln zusammendrängen, jedes Jahr im Durchschnitt zehn Prozent der Jungen (die andere Väter haben) zu Tode. In welchem Sinn ist die Aggression der Männchen hier gut für die Spezies? Beseitigen sie mit ihren Füßen minderwertige Gene?
Verbreitet ist auch die Vorstellung, dass enge Verwandtschaftsbeziehungen konfliktfrei verlaufen. Angeblich wird die Coevolution von Mutter und Nachkommen begünstigt – jede Seite entwickelt sich so, dass sie der anderen hilft. Wie wir in Kapitel 4 erfahren haben, stimmt das für reale Familien nicht einmal annähernd. Schon bei der Entstehung der Plazenta hilft die Mutter dem eindringenden Gewebe des Fötus nicht – vielmehr legt sie ihm chemische und physikalische Hindernisse in den Weg (um später übermäßige Investitionen zu vermeiden). Dennoch stellten sich Vogelfreunde in den 1960 er Jahren gern vor, die Familien, die sie mit Begeisterung beobachteten, seien frei von Konflikten; dies wurde jedoch wenig später durch einen häufigen Befund widerlegt, dem zufolge die Quote der außerpartnerschaftlichen Vaterschaft bei über 20 Prozent lag.
Die Evolutionsbiologen bedienten sich also jahrelang einer Argumentation, mit deren Hilfe sich in den Sozialwissenschaften und anderswo die Vorstellung verfestigen konnte, die Evolution begünstige alles, was gut für die Familie, die Gruppe, die Kultur, die Spezies und vielleicht sogar das Ökosystem sei, während sie gleichzeitig die realen Konflikte innerhalb dieser Einheiten angeblich auf ein Minimum reduzierte. Anthropologen rationalisierten sehr schnell die Kriegsführung: Auch sie stelle ein raffiniertes Mittel zur Regulierung der Bevölkerungszahl dar und werde deshalb von der Evolution begünstigt. Für Merkmale hingegen, die nicht sozialer Natur sind, hat dieser Fehler praktisch keine Bedeutung. Wir Menschen können mit unserer einrastenden Kniescheibe aufrecht stehen, ohne dass wir Energie für die Anspannung der Beine aufwenden müssen. Sie entwickelte sich, weil sie dem Individuum nützlich war, aber wer behauptet, ihre Evolution habe der Spezies genutzt, interpretiert diese Kniescheibe ebenfalls nicht falsch. Bei sozialen Merkmalen ist das anders. Wie wir erfahren haben, können wir hier die Bedeutung eines Merkmals genau ins Gegenteil verkehren, wenn wir nicht erkennen, wie es unter den Individuen begünstigt wird, obwohl es von anderen möglicherweise einen hohen Preis fordert. Stattdessen stellen wir uns vor, alle müssten davon profitieren. Das läuft letztlich oftmals auf eine Bekräftigung des Pangloss-Theorems hinaus – alles ist zum Besten in der besten aller möglichen Welten.
Auch Altruismus stellt kein größeres Problem dar, wenn man vom Vorteil für die Spezies ausgeht: Solange der Nutzen größer ist als die Kosten, ergibt sich unter dem Strich für die Spezies ein Gewinn. Auf der Ebene des Individuums lässt sich Altruismus natürlich nicht ohne weiteres erklären; er setzt besondere Bedingungen voraus, beispielsweise Verwandtschaft oder eine Beziehung auf Gegenseitigkeit, wobei es in beiden Fällen zu inneren Konflikten kommt. Letztere erzeugen ein Gerechtigkeitsgefühl zur Bewertung von Beziehungen, die nicht auf Gegenseitigkeit beruhen – eine Anpassung, die unter dem Gesichtspunkt der Gruppenselektion unnötig ist.
Sind die Wirtschaftswissenschaften
eine Wissenschaft?
Die kurze Antwort lautet: nein. Die Wirtschaftswissenschaften geben sich als Wissenschaft aus und reden wie eine Wissenschaft – sie haben einen eindrucksvollen mathematischen Apparat entwickelt und verleihen sich jedes Jahr einen Nobelpreis – und doch sind sie bisher keine. Sie gründen sich nicht auf ein Fundament aus Kenntnissen (in diesem Fall der Biologie). Das ist schon auf den ersten Blick seltsam, denn Modelle für wirtschaftliche Tätigkeiten müssen zwangsläufig auf einer Vorstellung davon basieren, wonach ein einzelner Organismus strebt. Was wollen wir maximieren? Hier spielen die Wirtschaftswissenschaftler ein Hütchenspiel. Man rechnet damit, dass Menschen danach streben, ihre »Nützlichkeit« zu maximieren. Und was ist Nützlichkeit? Nun, alles, was die Menschen maximieren
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