Betrug und Selbstbetrug
wollen. In manchen Situationen streben wir danach, möglichst viel Geld zu erwerben, in anderen geht es um Lebensmittel und wieder in anderen ist Sex wichtiger als Lebensmittel oder Geld. Wir brauchen also »Präferenzfunktionen«, die uns sagen, wann eine Form der Nützlichkeit gegenüber einer anderen das Übergewicht gewinnt. Diese muss man empirisch ermitteln, denn die Wirtschaftswissenschaften selbst können keine Theorie dafür anbieten, wie ein Organismus diese Variablen voraussichtlich einstufen wird. Aber die Präferenzfunktionen in allen einschlägigen Situationen durch Messungen zu ermitteln ist schon für einen einzelnen Organismus und erst recht für eine Gruppe von vornherein ein hoffnungsloses Unterfangen.
In der Biologie gibt es heute eine gut entwickelte Theorie dafür, was Nützlichkeit ist (selbst wenn die Wahrheit einige hundert Jahre lang falsch dargestellt wurde); sie gründet sich auf Darwins Begriff des Fortpflanzungserfolges. Wenn man von der Nützlichkeit (das heißt vom Profit) für ein Lebewesen spricht, sollte man wissen, dass man damit letztlich die Gesamtfitness des Individuums meint, das heißt die Zahl seiner überlebenden Nachkommen sowie die positiven und negativen Auswirkungen auf den Fortpflanzungserfolg der Verwandten, die jeweils durch seinen Grad der Verwandtschaft mit ihnen abgewertet werden. In vielen Situationen ist diese genauere Definition (im Vergleich zum Fortpflanzungserfolg allein) nicht von Bedeutung, aber wenn die Wirtschaftswissenschaftler entschlossen so tun, als könnten sie eine frei erfundene Theorie aufstellen – das heißt eine Theorie, die unabhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen außerhalb der Wirtschaftswissenschaften ist –, übersehen sie eine ganze Reihe von Zusammenhängen, die von entscheidender Bedeutung sein dürften. Wie wir bereits im ersten Kapitel erfahren haben, nehmen sie oft unausgesprochen an, die Marktkräfte würden von Natur aus in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systemen den Preis der Täuschung beschränken, 4 aber eine solche Überzeugung entspricht nicht dem, was wir aus dem Alltagsleben kennen, und noch viel weniger steht sie im Einklang mit den Kenntnissen der Biologie im Allgemeinen. Aber diese »Wissenschaft« ist so weit von der Realität entfernt, dass solche Widersprüche nur dann Aufmerksamkeit erregen, wenn die ganze Welt in eine wirtschaftliche Depression taumelt, weil die Habgier der Unternehmen sich mit einer falschen Wirtschaftstheorie verbindet.
Teilweise hat der Fehler damit zu tun, dass der Begriff »Nützlichkeit« zweideutig ist. Er kann die Nützlichkeit unserer Handlungen für uns selbst oder andere bezeichnen, auch für unsere übrige Gruppe. Wirtschaftswissenschaftler stellen sich gern vor, beide Formen von Nützlichkeit würden gut übereinstimmen. Oft vertreten sie die Ansicht, dass Individuen, die aus persönlichem Nutzen (der nicht definiert wird) handeln, gleichzeitig auch der Gruppe nützen (also eine allgemeine Nützlichkeit bieten). Deshalb sind sie häufig blind für die Möglichkeit, dass die uneingeschränkte Durchsetzung des persönlichen Nutzens katastrophale Auswirkungen auf den Nutzen für die Gruppe haben kann. In der Biologie ist dies ein altbekannter Fehlschluss, für den es Hunderte von Beispielen gibt. Nirgendwo nehmen wir im Voraus an, dass die beiden Formen von Nützlichkeit in die gleiche Richtung gehen. Dies muss in jedem Einzelfall gesondert nachgewiesen werden.
In jüngerer Zeit bemühen sich Wirtschaftswissenschaftler, Zusammenhänge zu verwandten Fachgebieten mit Hilfe der sogenannten Verhaltensökonomie herzustellen, einer Verbindung mit der Psychologie, die man nur begrüßen kann. Aber wie üblich weigern die Wirtschaftswissenschaftler sich standhaft, die letzte Verbindung zur Evolutionstheorie herzustellen, selbst wenn sie vordergründig so tun. Mit anderen Worten: Selbst wenn Wirtschaftswissenschaftler evolutionstheoretische Erklärungen für wirtschaftliches Verhalten vorschlagen, gehen sie dabei häufig von ungewöhnlichen, der Logik widersprechenden Annahmen aus. In jüngster Zeit wurde beispielsweise häufig angenommen, unser Verhalten habe sich in der Evolution gezielt so entwickelt, dass es zu künstlichen Wirtschaftsspielen passt – ein Fehler, der in den besten Fachzeitschriften veröffentlicht wurde.
Um uns klarzumachen, wie bizarr das ist, können wir das in Kapitel 2 beschriebene Ultimatumspiel betrachten. Menschen lehnen ungerechte Angebote zur
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