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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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wie schön.«
    »Ich versteh das nicht«, sagt Marie. »Warum schenken Sie uns ein Schloss?«
    »Das ist nur geliehen«, sagt der Verantwortliche, »nur für morgen, fürs Fest.«
    »Ach so«, sagt Marie und läuft zurück ins Rathaus.
    Eleni betrachtet das Schloss, die Würstchenbude, das Bierzelt, und es geht ihr ähnlich wie Marie, auch sie ist verwundert. Tatsächlich scheinen die Verantwortlichen diese bunte Welt als Ersatz zu begreifen. Was noch seltsamer ist: Eleni fühlt sich tatsächlich entschädigt durch die Grillwürstchen und das frisch gezapfte Bier und durch das Hüpfschloss, einzig und allein für Marie. Vielleicht reicht das schon, denkt sie.
    Sie hat von einem Leben in der Großstadt geträumt und später von einem Haus am Meer und einem Studio. Lange wollte sie Fotografin werden, das könnte sie jetzt nachholen, das kann man immer. Aber das wäre, als würde sie sich mit über vierzig plötzlich die Haare blond färben. Das würde ihr niemand mehr glauben. Eleni ist und bleibt Bäckerin, das hat sie gelernt, das hat ihr Vater ihr beigebracht und das lehrt sie ihre Tochter. Eleni wird dort oben wieder Bäckerin sein, die Bäckerei steht schon, sie plant dazu ein kleines Café, so richtig zum Sitzen und mit Porzellantassen statt Pappbe
chern. Eleni kann sich vorstellen, sich abzufinden mit der ganzen Sache, mit Jeremias für alle Zeit und mit der Gefahr, dass die Zwillinge gehen könnten, um in der großen Stadt zu leben oder am Meer. Sie selbst wird auf einen See blicken, immerhin. Ein See, das ist doch schon mal was, das ist doch fast wie das Meer, nur fühlt es sich nicht ganz so endgültig an. Ein See kann bei Trockenheit verschwinden, und aus irgendeinem Grund beruhigt Eleni diese Möglichkeit. Nichts daran ist endgültig, auch wenn sie sich gegen ihr Kind auf dem Friedhof entscheiden, wenn es für alle Zeit ihr Geheimnis bleiben sollte.
    »Mama?«, fragt Jules, und Eleni schreckt auf, sie fühlt sich verschlafen und einen Moment weiß sie nicht mehr, wo sie sich befindet. Eleni ist im Hüpfschloss, sie liegt neben dem Pony, sie weiß nicht, wie sie hier gelandet ist.
    »Was machst du?«, fragt Jules.
    »Keine Ahnung«, sagt Eleni, und Jules lässt sich neben sie fallen. Eine Weile liegen sie nur und sprechen kein Wort. Eleni spürt seinen Arm warm an ihrem, sie überlegt, ob sie vielleicht jetzt all die Fragen loswird, die sie sich abends stellt, wenn es dunkel ist und sie allein, wenn die Gedanken so schwermütig kriechen, wie es tagsüber im Sommerflutlicht unmöglich ist.
    »Wahrscheinlich ist alles gar nicht so schlimm«, sagt Jules leise, seine Stimme ist tiefer, als sie sie in Erinnerung hat.
    »Wahrscheinlich nicht«, sagt Eleni und nimmt seine Hand, die ist kalt und trocken, er drückt sie sehr fest, er hat Kraft. »Du spielst wieder Saxophon«, sagt Eleni.
    »Ja.«
    »Lass uns feiern. Lass uns morgen ein Fest feiern, Jules.«
    Als Eleni sich aufsetzt, merkt sie, dass Jules weg ist, keine Ahnung wie lange schon, und auf einmal zweifelt sie daran, dass er überhaupt da war. Neben ihr liegt ein brüchiger Umschlag, ein grauer Brief, unversehrt und ungeöffnet. Eleni
steckt ihn in die Hosentasche, so hastig, als wäre es verboten, derartige Post zu bekommen. Sie hat auf diesen Brief gewartet.
    Seit Wochen denkt sie die meiste Zeit an die Entscheidung, die sie treffen muss, falls der Brief doch noch kommt. Jetzt wünscht sie sich, Jules hätte ihn weiter für sich behalten. Eleni steht auf, sie ist allein, kein Besucher, kein Bus, keiner der anderen ist noch da, und Eleni zögert nicht mehr, klettert auf das Luftpolster, steckt ihr Hemd fest in die Hose, richtet sich wacklig auf und beginnt zu springen, sie hatte es vergessen, das Gefühl, das das Springen im Bauch verursacht.
     
    Die Küche, der Tisch, drei Teller, ein frisch gebackenes Brot, das Fotoalbum, die Seiten mit Gelbstich und einem säuerlichen Geruch, ein Rest kalter Tee und Wacho, der alles im Blick hat, seit mindestens zehn Minuten sitzt er regungslos, lauscht ins Haus hinein, fragt sich, ob noch jemand da ist. Er könnte aufstehen, die Jacke anziehen und die schweren Schuhe, er kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal Schuhe getragen hat, seit Tagen, Wochen vielleicht läuft er auf Socken, fehlt ihm ein Grund, das Haus zu verlassen. Am Fenster fliegt Eleni vorbei, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Wacho muss lächeln, ganz kurz nur. Selbst das ist ihm lange nicht geglückt, bis genau jetzt: eine zufrieden

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