Bevor Alles Verschwindet
durch die Blätter fällt der Mond, das Blattwerk ist vergoldet, na klar. Greta gerät in Versuchung, eines der Blätter abzupflücken, aber dann hält sie inne. Was soll sie mit dem Blatt, sie kann es ohnehin nicht mitnehmen, sie braucht nichts mehr. Greta streicht Milo über den Kopf, er und sie allein auf der Treppe, er und sie zwischen den Welten.
»Wer bist du?«, fragt Greta. Milo zieht die Schultern hoch, seine Augen sind gelb, vielleicht ist es das Licht, vielleicht aber auch nicht. »Du bist noch mehr, du bist auch noch andere, das verstehe ich jetzt.« Milo leuchtet wie die Blätter am Baumstumpf. Vielleicht macht auch das der Mond. Milo erinnert Greta so dermaßen an Ernst, dass sie ihn am liebsten küssen würde. Es hat etwas mit einem Mangel zu tun, weiß Greta, Milo verkörpert das Vermissen.
»Was sollen wir mit David machen?«, fragt sie. Milo könnte auch eine Art Orakel sein, aber Milo spricht nicht und gibt keine Zeichen. »Worauf wartest du?«, fragt Greta und: »Was soll ich tun, wegen Ernst, wegen des Motorrads? Du weißt doch, was ich vorhabe, das weißt du doch, nicht wahr?« Milo
sagt nichts, mit seinem glasklaren Blick sieht er durch Greta hindurch, die ist enttäuscht, selbst Milo hat keine Antworten.
Ihr letzter Tag, der Tag des Festes, Stunden, in denen noch einmal der Ort im Mittelpunkt steht, das nächste Mal wird das am Tag der Flutung der Fall sein. Schon morgens gegen neun rücken die ersten Reisebusse an, aus irgendeinem Grund fühlt sich die Außenwelt eingeladen. Eleni hat sich mutig und allein den Fahlen genähert, sie ist nun eine der internen Verantwortlichen, sie hat die Gespräche geführt, hat dafür gesorgt, dass das Fest nicht vergessen wird, der letzte Geburtstag, der seit Jahren immer wieder Gesprächsthema war, im Tore, das Tore ist weg. Eleni hat überlegt, ob sie die ehemaligen Bewohner ausdrücklich einladen soll, aber sie hat sich dagegen entschieden. Jeder einzelne von ihnen sollte wissen, dass heute das Jahrhundertfest stattfindet, und wer es vergisst, der hat schon alles vergessen, das Tore, das Fest, den Ort.
Auf dem Parkplatz wird gehupt, einer der Gelbhelme übernimmt den Parkdienst, winkt die Reisebusse und Familienautos in die Lücken, er muss achtgeben, nicht überrollt zu werden. Die meisten Besucher fahren so rabiat, als wären sie hier nicht nur in der zeitlosen, sondern auch in der gesetzlosen Zone. Eleni mag die Besucher nicht besonders, aber sie hat sich vorgenommen, heute für einen Tag nett zu ihnen zu sein, sich fröhlich und unbeschwert zu geben und später auf möglichst wenigen Fotos aufzutauchen. Wenn sie das schafft, dann wird das Fest ein Erfolg. Und Wacho herauslocken, das ist noch so ein Ziel, das ist eigentlich das größte Vorhaben des Tages. Eleni hat sich geschworen, Wacho aus seiner Gedenkküche heraus und ans Licht zu befördern.
Auf dem Hauptplatz stehen die Buden, das Hüpfschloss, auf dem Plastik fallen ihr lehmige Spuren auf, heute Nacht muss jemand gesprungen sein, der es geschafft hat, in dieser Trockenheit eine matschige Stelle zu finden. Aus dem Rat
haus kommen Greta, Clara und Robert, alle in bester Kleidung. Auch Eleni hat sich schick gemacht, seit Jahren hat sie kein Kleid mehr getragen, erst heute wieder, das sommergelbe, das ihr Jeremias in einem Urlaub geschenkt hat und für das er im Austauch von ihr einen goldgriffigen Spazierstock bekommen hat. Marie sitzt neben Milo, geistesabwesend streichelt sie den kopflosen Löwen. Sie bleibt auch sitzen, als ihre Eltern auf Eleni zugehen. Robert breitet die Arme weit aus, als wären sie einander lange nicht begegnet, als hätten sie nicht schon schweigend nebeneinander beim Frühstück gehockt.
»Eleni«, sagt Robert, »wie schön.«
»Ja«, sagt Eleni und: »Das Fest.« Clara nickt stumm, dafür mehrfach.
»Wir sind schon ganz aufgeregt«, sagt Robert.
»Du«, sagt Clara. »Du bist aufgeregt und nicht erst seit heute, sondern seit etwa sechs Monaten.«
»Da hast du recht«, lacht Robert. »Ich dreh' total durch.« Nach einer Pause lachen alle drei schallend, Jula legt ihren gelangweilten Blick ab und gesellt sich zu ihnen.
»Was ist denn so lustig?«, fragt sie.
»Das Leben«, ruft Robert, und Clara ermahnt ihn lächelnd, nicht so grundsätzlich zu sein.
»Das ist übertrieben«, lacht Clara.
»Warte, bis du mein Stück siehst«, sagt Robert.
»Mama«, sagt Jula. »Ich muss dir gleich mal jemanden vorstellen.« Eleni will sie fragen, wo Jules ist, aber Jula
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