Bevor Alles Verschwindet
Vorbeigehen legt sie die Hand in Milos Haar, es ist ganz warm von der Sonne. Eleni macht das heute zum ersten Mal. Sie nimmt Milo erst jetzt wahr, lange nachdem David und die anderen ihn entdeckt haben. Erst mit dem grauen Brief in der Tasche spielt er für sie eine Rolle.
»Morgen wird gefeiert«, sagt Eleni, aber Milo antwortet ihr nicht, damit hat sie auch nicht gerechnet. »Und danach fahren wir weg, dann ist es genug mit der Grabesstimmung. Das Kind wäre jetzt in deinem Alter«, sagt Eleni. »Wahrscheinlich würde es genauso aussehen wie du.«
»Mit wem redest du?«, fragt Jula, die plötzlich hinter Eleni steht, sie hat eine Picknickdecke unterm Arm und einen feinen Zweig im Haar. Obwohl es hier bestimmt keine Verstecke mehr gibt, hat Eleni das Gefühl, nur noch plötzlich und unvermittelt angesprochen zu werden, sie sieht Dinge und Menschen nicht mehr auf sich zukommen.
»Alles klar?« Eleni nickt, strahlt ihre Tochter an, die strahlt zurück. »Was ist denn mit dir passiert?«, fragt Jula.
»Mir geht es gut«, sagt Eleni. »Und dir? Du siehst zufrieden aus.« Jula nickt. »Komm mal her«, sagt Eleni und Jula kommt tatsächlich zu ihr, lässt sich umarmen, aber nur kurz, dann tritt sie zurück. Jula riecht nach Zigarettenrauch.
»Wann geht das Fest los?«, fragt sie.
»Um elf. Aber dann spricht erst einer von den Verantwortlichen. Da musst du nicht hin.«
»Vielleicht komme ich trotzdem«, sagt Jula. »Vielleicht bringe ich noch jemanden mit.« Eleni will fragen, wen Jula mitbringt, verkneift es sich aber.
»Schön«, sagt sie. »Ich freu' mich. Du musst das Hüpfschloss ausprobieren, das tut gut.«
»Vielleicht«, sagt Jula und dann geht sie ins Haus und Eleni
auch. Hinter ihnen wabert der Tag seinem Ende entgegen, treffen sich Hell und Dunkel erst um Mitternacht. Das Damals schwappt zurück in den Ort und Erinnerungen türmen sich auf zu Gespenstern.
Um kurz nach zwölf steht Eleni am Fenster, sie sieht in Richtung des bloßgelegten Friedhofs und überlegt, wie sie das Formular ausfüllen soll, wo sie ihr Kreuz macht. Morgen endet die Antragsfrist, bis dann muss sie sich entscheiden, aber sie weiß es nicht, sie weiß es einfach nicht. Viel zu schnell ist das Fluggefühl verschwunden, der Körper ist längst wieder schwer. Sie will sich nicht trennen und sie kann es nicht mitnehmen, ihr anderes Kind, ihr stilles.
Eleni weiß nicht, ob Greta ihren Ernst mitnehmen will. Das Fest, denkt Eleni, das Fest. Das Kind, denkt sie, mein Kind. Fest und Kind und die Zwillinge und Greta ohne Ernst und Davids unterdrücktes Wimmern und Wachos verdammte einsame Wut und Marie, die den Schädel irgendwo verloren haben muss. Marie spricht nicht mehr über den Schädel, sie folgt ihren eigenen Wegen, aber morgen werden sie alle noch einmal zusammen sein, sie werden den Untergang feiern und das Verschwinden aller Geheimnisse, die unter dem Weltgeschehen begraben werden. Morgen entscheidet sie sich, noch morgen, bevor das Fest vorbei ist, bevor die Ämter schließen. Nur noch ein paar Stunden, noch ein letztes Stück Sommer.
»Ernst«, sagt Greta klar und deutlich. »Ernst, in weniger als einem Tag bin ich da.« Ernst sagt nichts, Ernst ist tot, aber er freut sich schon. Greta streicht über den Grabstein, er ist sehr kalt. Sie geht den Kiesweg hinunter, erkennt die Spuren der Bagger, der Schubkarren. Die Gelbhelme zerren die alten Rosenbüsche aus der Erde, die sollen irgendwo am See Teil eines Erinnerungshains werden. Greta blickt hinauf zum Kreuz. Fledermäuse drehen dort ihre Runden, um die wird sich auch irgendein Gelbhelm kümmern. Es wird sich um alles
gekümmert und um jeden, das ist gut, das ist beruhigend, das Wissen stellt ihr den Freifahrtschein aus, den Passierschein für die unsichtbare Grenze.
Greta hat vor lauter Erleichterung ein Hochgefühl, Greta springt, sie fühlt Ernst neben sich, den jungen Ernst, so oft in letzter Zeit besucht er sie, ihr Ernst mit dem kohlrabenschwarzen Haar. Gemeinsam gehen sie jetzt den Weg hinunter und sie kann seine Hand nicht nehmen, sie weiß, er ist nur eine Idee, aber das reicht vollkommen, bis morgen.
»Ernstchen«, sagt Greta, sie sagt es nicht laut, sie spricht mit ihm in Gedanken, nur mit dem Grab spricht sie laut, und er folgt ihr bis zum Friedhofstor. »Kommst du noch mit?«, fragt Greta ihn dort, er schüttelt den Kopf. Allein geht sie die Straße hinab, tritt auf die Reste des Hauptplatzes, läuft am Stumpf der Linde vorbei, aus dem wachsen neue Äste,
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