Bevor Alles Verschwindet
ist eine der neuen Gewohnheiten. Heute Morgen wurde das Haus der Schnees umgeworfen, mit dem Schutt sind sie noch beschäftigt, das dauert immer ein paar Stunden, für den Schutt brauchen sie am längsten. »Schutt«, murmelt Eleni. »SchuttSchuttSchutt.« Es hört sich an wie ein seltsamer Dialekt, wie etwas aus einer anderen Welt. Schutt hört sich so fremdkörperlich an, so, als hätte das nichts mit ihnen zu tun. Eleni freut sich, dass Clara und Robert nun auch hier sind, dass mit Marie jemand einzieht, dem der Kummer noch nicht alles zuschnürt. Sie sind zu zehnt, neunt oder acht, je nachdem, ob man David mitzählt, oben in seinem leeren Zimmer, und Milo, von dem Marie manchmal spricht und der dort draußen auf der weißen Treppe sitzen soll. Eleni zählt alle mit,
also zehn. Man muss sich an dem freuen, was noch da ist, und dass alle unter einem Dach leben können, ohne viel Geschrei und ohne Streit, das hätte sie nicht erwartet.
Vielleicht liegt es daran, dass sie alle sehr ruhig geworden sind. Wenn man sie so am Tisch sitzen sehen würde, als Außenstehender, dann könnte man sie für Gespenster halten. Sie leben in einer Zwischenwelt, niemand protestiert noch ernsthaft. Sie warten und planen das letzte Sommerfest, das ein Jahrhundertfest ist, und wenn es klopft, wird Eleni aufmachen, Wacho geht nicht mehr zur Tür. Er fürchtet sich vor der kalten Diele und vor der leergeräumten Außenwelt.
Greta steigt den Turm hinauf, sie klettert mit knackenden Gelenken. Es knirscht wie nie zuvor, die Jahre singen Greta ein Lied. Heute ist der Tag der Turmbesteigung, das erste Mal überhaupt ist es kein erster April, und die Sonne beleuchtet Gretas Aufstieg mit einer Kraft, als wüsste sie, dass es sich um ein ganz besonderes Schauspiel handelt.
Die Übriggebliebenen haben sich darauf geeinigt, das Kreuz nicht mitzunehmen in ihr neues Zuhause. Das Kreuz soll fallen, wenn der Turm einstürzt. Aber vorher: Einmal noch die Würde wahren, einmal noch erweist Greta ihrem Vater, ihrem Großvater und Urgroßvater die Ehre, einmal noch erklimmt das letzte Mitglied der Familie den Turm, um das Kreuz zu polieren, bis es glänzt im Sonnenschein, ausnahmsweise nicht im blauweißen April. Greta ignoriert die Schmerzen im Rücken, in den Knien, im Kopf, die sie daran erinnern, dass sie nicht mehr siebzehn ist. Sie fürchtet sich nicht vor der Gefahr, abzustürzen, im Gegenteil: Eigentlich wäre das ein praktischer Zufall. Aber andererseits möchte sie niemandem Alpträume bereiten, sie will mit ihrem Tod so wenig Platz wie möglich einnehmen.
Greta drückt in der linken Tasche das Poliertuch, in der rechten steckt die kleine hellgrüne Flasche, in die freie Hand
bohrt sich der schmale Henkel des Wassereimers. Greta greift nach dem wackligen Geländer, das hat Ernst für sie angebracht, gleich nachdem er die erste Turmbesteigung sah. Als Greta damals wieder hinabstieg, war Ernst so bleich wie der Marmor des Grabsteins, auf den er sich stützte. »Nie wieder«, hat Ernst gesagt. »Nie wieder, Greta, steigst du mir da hinauf.« Natürlich hat er sie im nächsten Jahr doch auf den Turm gelassen. Aber vorher hat er das Geländer angebracht, eigenhändig und trotz seiner Höhenangst.
Greta erreicht die winzige Plattform, der Wind weht hier kräftiger als unten auf dem Friedhof. Sie wringt den Lappen aus, zunächst muss sie das Kreuz putzen, erst dann wird poliert. Von hier oben kann sie Ernsts Grab erkennen. Morgen muss sie es tun, und zwar in der Nacht, wenn das letzte Fest gefeiert ist, dann wird es für sie höchste Zeit, sich auf den Weg zu ihm zu machen. In den vergangenen Wochen hat sie gründlich recherchiert, bei der Kirchenbehörde hat sie nachgefragt und bei der Friedhofsverwaltung, sie hat die Versatzstücke zusammengefügt. Sie weiß jetzt, wann die Betonmischer kommen und ihre Decke über die Gräber gießen, nach dem Beton kommt dann nur noch das Wasser.
Greta angelt die Poliercreme aus ihrer Schürzentasche, zum Polieren zieht sie sich immer die alte Schürze an, jedes Jahr wickelt sie sich das Tuch um den Kopf. Greta wird heute polieren, bis das Kreuz die Anreisenden auf der Landstraße blendet. Greta drückt die Creme auf den Lappen, sie mag den Geruch, sie atmet tief ein. Mit einer Hand hält sie sich an dem eisernen Griff fest, den ihr Vater angebracht hat, als er das Amt übernahm. Dann beginnt Greta zu putzen, fast frei in der Luft hängend, bringt sie das Kreuz zum Leuchten. Unten, winzig klein von hier,
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