Bevor Alles Verschwindet
ist schon wieder unterwegs, sie geht den aufgewühlten Weg entlang auf die Baustelle zu, Eleni schaut ihr besorgt hinterher.
»Aber keinen Blödsinn machen.«
»Und wo findet das Fest nun statt?«, fragt Clara. Noch gibt es kein Bier, keine Musik, nur Besucher, unter ihnen immer noch keiner der Ehemaligen. Eleni hofft auf Jeremias, sie würde gern mit ihm tanzen, nachher bei Sonnenuntergang
und mit Blick auf die Linde, deren Stumpf heute in voller Blüte steht.
»Ich mach mal die Musik an«, sagt Clara, küsst Robert und läuft zur Anlage hinüber.
»Das ist es jetzt also«, sagt Robert zu Eleni.
»Das ist unser Fest«, sagt Eleni und: »Heute denken wir nicht an den Untergang, das lassen wir mal.« Robert schüttelt den Kopf und wickelt seine Hände ineinander:
»Na ja, es kommt ja gleich noch mein Stück.«
»Dein Proteststück«, sagt Eleni und Robert nickt müde.
»Ich weiß«, sagt er. »Das kommt wohl ein bisschen zu spät.«
»Ich bin jedenfalls gespannt«, sagt Eleni und folgt Clara zum Zelt. Bevor sie Wacho rausholt, muss alles in Gang sein. Er soll aus dem Jahrhundertfest kein Trauerspiel machen. Sie hofft, dass David in seinem Zimmer bleibt, Davids Anblick wäre für alle zu viel. Eleni drückt den orangefarbenen Knopf, den Clara vergessen hat, vom Generator her fließt Strom in die Anlage. »Weißt du noch«, brüllt Clara gegen die Musik an. »Weißt du noch, wie das war?«
»Mach mal ein bisschen leiser«, brüllt Eleni. Clara tut so, als würde sie Eleni nicht hören, und daran erinnert Eleni sich jetzt, wie Clara niemals das tut, was sie soll, wie Clara immer meint, die Königin zu sein. Eleni seufzt und dreht die Lautstärke selbst runter. Sie kümmert sich um die Würstchen und lässt Clara hinter ihrem Rücken Grimassen schneiden. Es ist normal und gewöhnlich und ein bisschen albern in ihrem Alter, aber es ist auch beruhigend, normal ist gut.
Martin Wacholder amtiert nicht mehr. Ein Bürgermeister verpasst kein Jahrhundertfest, ein Bürgermeister fürchtet sich nicht vor dem eigenen Ort, auch nicht, wenn der nur noch ein Trümmerfeld ist. Wacho steht vor Davids Tür, er steht hier jeden Tag, aber heute ist es anders. Wacho möchte David
fragen, ob er mit ihm rausgeht, ihn zum Fest begleitet. Er weiß nicht, was passiert, wenn er David sieht, ob er sich wird kontrollieren können, wenn ihn die Wut wieder packt, wenn er sich erinnert, wie David heimlich verschwinden wollte im Rahmen der Sprengung. Wacho klopft nicht, er reißt die Tür abrupt auf, er will im Zimmer jemanden erwischen.
»David!«, brüllt Wacho. Er brüllt nicht, weil er zornig ist, sondern aus Reflex, erschreckt von der eigenen Courage und Eile, seit Wochen war Wacho nicht mehr so schnell. Seine Stimme klingt blechern und wie immer zu laut. Das Zimmer ist leer.
»David«, sagt Wacho schroff. »David, komm raus.« Er weiß nicht, wo David rauskommen soll, im Zimmer ist nichts außer der Matratze und einer Decke. Der Bezug hat ein Strandmotiv und liegt unter der Heizung, aber da hat sich kein Mensch eingewickelt, auch keiner, der lange nichts mehr gegessen hat. »David«, sagt Wacho. »David?«
Er ist weg, irgendwie hat er es geschafft zu verschwinden. »Ich hasse dich«, stößt Wacho hervor. »Ich hasse euch beide. Ja, ihr könnt mich mal, auf euch warte ich nicht mehr.«
Wacho steht noch ein paar Minuten in der Mitte des Raums, auf dem Boden liegt ein Stofffetzen. Wacho hebt ihn auf, es gibt kein Entkommen ohne Trauer. Dann geht er hinaus, sanft schließt er die Tür hinter sich. Ein weiteres Zimmer, das verschlossen gehört, eine weitere Gruft inmitten des Hauses. Wacho überkommt die Erkenntnis, dass das alles bald weg sein wird, wie eine Erlösung. Sie werden tun, was er nicht tun kann, sie werden das Haus dem Erdboden gleichmachen. Sie sorgen dafür, dass der Schmerz nachlässt.
Wacho schleppt sich die Treppe hinunter, von der Kühlschranktür reißt er die Zeichnungen, die vielleicht Menschen beim Pokerspiel zeigen oder auch Spinnen, die über Glatteis schliddern. Er presst die Zeichnungen zu Kugeln, er zerfleddert sie mit den Zähnen, schluckt Papier, tritt gegen den Kühlschrank, so dass die restlichen Magnete hinabfallen und
wie tote Käfer auf dem Boden liegen. Wacho packt das Fotoalbum, von dem Geruch wird ihm schlecht wie von der Vergangenheit, die ihn aus den Bildern heraus verhöhnt. Wacho zieht die schweren Schuhe an, die zu dicke Jacke, tritt durchs Zitronengelb und öffnet die Tür.
»Wo ist das
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