Bevor Alles Verschwindet
Fest«, donnert Wacho in die Gesichter der entsetzten Touristen. »Jetzt wird gefeiert«, brüllt er.
Oben im Zimmer lehnt David, totenstill, an der Wand hinter der Tür. Er ist noch da, aber nun wird er gehasst. Er rappelt sich auf, stützt sich dabei mit dem gesunden Arm ab, der andere hängt seit Wochen in einer Schlinge, die er sich aus dem Bettlaken gerissen hat. Er schafft es nicht, den Arm anzusehen, er traut sich einfach nicht. David geht zum Fenster, sieht hinaus auf das Fest, sieht Wacho, der dort unten begrüßt wird von Eleni und von Greta. Die beiden nehmen Wacho in ihre Mitte und führen ihn zum Bierstand. Vielleicht ist das tatsächlich eine vorübergehende Lösung, vielleicht ist das eine Möglichkeit, Wacho die Wut vergessen zu lassen. David hebt die Hand, Marie hat ihn gesehen, er legt den Finger an die trockenen Lippen. Marie nickt, sie wird ihn nicht verraten. Sie zeigt auf den blühenden Baumstumpf. David tritt vom Fenster weg und legt sich zurück auf die Matratze und starrt an die Decke. So hat er die letzten Wochen verbracht. David hat sich eine eigene Welt erfunden, die Wirklichkeit braucht er nicht mehr, er braucht nur den kleinen Stofffetzen aus Tibet, den braucht er zum Hinauskatapultieren, Tibet, Marokko, Grönland, Peru und Indien und nach London, denkt David. London ist ihm selbst eingefallen. David tastet und findet ihn nicht, er kriecht auf den Knien durch den fast leeren Raum. Er kann ihn nicht finden, der Stofffetzen ist weg.
//Rede des Verantwortlichen um 11:07 Uhr//
Es freut uns, und ich spreche hier im Namen aller Beteiligten, es freut uns, dass Sie gekommen sind, um dem Ort an
seinem Geburtstag die letzte Ehre zu erweisen. Der Ort ist sehr alt, und jeder muss einmal gehen, wenn seine Zeit gekommen ist, und so auch er. Sicherlich mischt sich für einige von Ihnen in die Vorfreude auf ein rauschendes Fest ein klein wenig Melancholie. Das ist gut, das macht nichts. Ich spreche nicht für mich, ich spreche für die Firma und das Land, wir sind sehr betroffen und gleichzeitig sind wir sehr froh. Das Projekt ist wichtig, es hat lange gedauert, bis alle Instanzen dies eingesehen haben, aber nun ist es so weit, seit einem halben Jahr bauen wir, und um auf den Ort zurückzukommen: Es geht weiter. Schauen Sie, dort drüben steht unser Modell. [Alle Blicke wenden sich zum Modell, ein paar der Besucher fotografieren.] Ja, so sieht es hier bald aus, glauben Sie es nur, ist das nicht großartig? Der Abbruch bedeutet kein Ende, er bedeutet für alle einen Neuanfang, und bestimmt übertreibe ich nicht, wenn ich sage, dass es ein guter ist. Denn wir streben nach Verbesserungen, und ich sage Ihnen, wir streben nicht nur, wir werden auch fündig. [Vereinzelt klatschen die Besucher, die Übriggebliebenen blicken zu Boden, Greta sieht in die Luft, Jules neben ihr schaut zum Staudamm hinüber.] Alt ist der Ort und müde, es wird Zeit, dass sich hier etwas entwickelt. Heute feiern wir den Abschied von der Vergangenheit, von allem, was nicht mehr dem Standard entspricht, denn die Zukunft ist da. Ich danke Ihnen, ich danke unserem Bürgermeister Martin Wacholder [Wacho wird von ihm Unbekannten beklatscht, man nickt ihm zu, er schließt die Augen, gibt sich unsichtbar] und ich danke allen Bewohnern, dass sie uns geholfen haben und immer noch helfen, die Maßnahmen so schnell wie nur möglich und ohne unnötige Unterbrechungen über die Bühne zu bringen. Und ich würde mich freuen, wenn von Ihnen bald ein paar Namensvorschläge für die neue Heimat kämen. Wer sonst hat schon diese außerordentliche
Chance, seinem Zuhause einen Namen zu geben? In wenigen Tagen ist es so weit, nehmen Sie Abschied, machen Sie einen Neuanfang. Heute aber feiern wir, der Firma sei Dank, die Burg ist von uns und das Bier und die Würstchen. Seien Sie unsere Gäste. Das Fest ist hiermit eröffnet. Ich bedanke mich, vielen Dank. [Ein stolzer Blick in die Runde, ein peinlicher Moment der Stille, ein einsames Klatschen.]
Zum ersten Höhepunkt kommt es um dreizehn Uhr, da tritt Marie auf die Bühne und kündigt das Stück an.
»Jetzt kommt ein Proteststück«, sagt sie und: »Von und mit Robert Schnee. Sie müssen sich alle hinsetzen und leise sein.« Die Besucher sind begeistert und entzückt, Marie springt von der kleinen Empore, setzt sich in die erste Reihe neben ihre Mutter und auf das Reserviert-Schild. Clara hält auf ihrem Schoß den Kassettenrecorder, sie wird die Knöpfe drücken für die Einspielungen.
Weitere Kostenlose Bücher