Bevor Alles Verschwindet
Neben ihr sitzt Wacho und neben dem der Verantwortliche, der die Rede gehalten hat und seitdem nicht mehr von Wachos Seite weicht. Der Verantwortliche zückt sein Bier und fordert Wacho auf, mit ihm anzustoßen:
»Da wollen wir mal hoffen, dass der Mann sich benimmt«, sagt der Verantwortliche und seine Stimme klingt ausgeleiert. Wacho stößt an und nickt, es fällt ihm schwer, sich auf das Gesagte zu konzentrieren. Es fällt ihm auch schwer, die Bühne zu fokussieren. Wacho strengt sich an, David zu vergessen und den Verrat. Das verlangt ihm seine gesamte Aufmerksamkeit ab.
Neben Wacho drückt Clara auf Play. Der Kameramann beginnt zu filmen, das Team fiebert mit Robert, obwohl sie sich projektmäßig von ihm getrennt haben und sie sich einig sind, dass sein Proteststück in ihrer Dokumentation nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen wird. »Zu künstlich«, hat der
Regisseur beim Feierabendbier rund um den Lindenstumpf gesagt und die anderen haben sofort verstanden, was er damit meint.
»Der Ort«, sagt Roberts Stimme vom Band.
»Jetzt geht es los«, sagt der Verantwortliche, aus den hinteren Reihen ertönt Applaus, vom Band Musik, die Akustikversion eines Liedes vom Untergang. Robert geht davon aus, dass es jeder kennt. Er hat es auf der Gitarre selbst eingespielt und in Moll gesetzt, wegen der Rechte und zum Ankurbeln der Melancholie. Robert steht hinter dem weißen Bettlaken, auf dem in Stichworten die Geschichte des Ortes flimmert:
erste Siedler – Gründung – Bürgermeister – Krieg –
Frieden – Kirche – steigende Geburtenrate –
Bürgermeister – Pflanzung der Linde – Krieg –
Frieden – Bürgermeister – Besetzung –
Widerstand – Tod – Bürgermeister – Frieden –
Bürgermeister – immer noch Frieden –
erste Abbruchspläne – gute Jahre – Staumauer –
Auslöschung des Ortes
Robert schwitzt in seinem Imperatorenkostüm, er sammelt Kraft und Konzentration. Auf diesen Moment hat er hingearbeitet, es darf nichts schiefgehen, er steht das letzte Mal auf einer Bühne. Robert spuckt sich selbst dreimal über die Schulter, klopft auf das Holz des letzten Wirtshaustisches. Dann tritt er nach vorn, jetzt kommt sein Monolog. Toi, toi, toi, flüstert Robert in Gedanken.
Über das Laken fließt nun ein Film, Jules, der den Bagger kapert, der unfreiwillig gegen die alte Linde kämpft, und Robert spricht im Nero-Kostüm:
»Wie kann ein Ort sterben, wo werden Erinnerungen gelagert, wenn nicht im unbewussten Gedächtnis eines zerkratzten Fußbodens, einer ausgetretenen Treppe, eines eingeritz
ten Namens: Hier war ich. Hier bin ich. Hier bleibe ich. Wo aber bleibt ein sterbender Ort, wenn seine Idee in den Bewohnern liegt und diese fortziehen und neu anfangen und vergessen? Was bleibt? Nur ein Früher-war-alles-besser oder ein Weißt-du-noch oder ein Ich-erinnere-mich-nicht-mehr?
Das ist dann der Tod. Das haben Menschen und Orte gemeinsam, das eine auf jeden Fall, dass ihre Unsterblichkeit in der Erinnerung liegt, dass sie verenden, wenn niemand mehr von ihnen spricht, nachdem sie begraben wurden, unter der Erde, in einem See. Sentimental und rückwärtsgewandt, ur-unflexibles Wesen, so ein Ort, so ein Gebäude, das nicht lebt, das nur ist und dann nicht mehr.
Nur du, mit deinem Kopf voller Träume und dem Wissen über ein Es-war-einmal. So fangen sie immer an, die Geschichten vom Tod. In deinem Kopf leben sie alle weiter im Jetzt, da kann man dir noch so oft erzählen, dass alles vorbei ist.
Du weigerst dich, und vielleicht denkst du, sie werden es dir danken. Aber so traurig das auch ist: Sie waren schon, sie sind nichts mehr, sie danken dir nichts –«
Robert verstummt. Er sieht sein Publikum an, taucht durch die dünne Wand, die zwischen seinem Stück und der Wirklichkeit liegt. Er kommt im Jetzt an und begegnet stumpfen Blicken, gähnenden Mündern, entdeckt ein paar leere Plätze in der letzten Reihe, die einzige Aufmerksamkeit das rot blinkende Lämpchen der Kamera, und Robert weiß seinen Text nicht mehr, das ist ihm noch nie passiert.
»Papa«, flüstert Marie, »einfach weitermachen«, und: »Schande«, flüstert sie, immer wieder »Schande«, und der Verantwortliche beugt sich zu Wacho und fragt, ob das soufflierende Kind dazugehört, ob das irgendein Stilmittel sei, aber Wacho kann sich nicht konzentrieren, er versteht nicht, was der Verantwortliche wissen will, Wacho sagt »Jaja«, weil das meistens
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