Bevor Alles Verschwindet
verschwundenen Comicfiguren. »Gut, dass du gerade kommst«, sagt sie, und Wacho bekommt wieder Luft, ist mit ein, zwei, drei Schritten beim Tisch, legt die Hand auf das Album und sieht Clara grimmig an. »Marie und ich fahren jetzt. Ich will los, solange sie noch schläft, sonst macht sie Theater«, sagt Clara, und Wacho nickt, nimmt Claras Hand, er spürt sie nicht. Clara will eine richtige Verabschiedung, sie umarmt ihn und er lässt es geschehen, denkt an früher. Wacho hat ein Bild im Kopf: Wie er mit Anna und der kleinen Clara im Wohnzimmer auf dem Boden saß, vor langer Zeit, als es David noch nicht gab und Anna noch zufrieden war mit dem, was der Ort und er ihr hier bieten konnten. Chipstüten, Videokassetten, Limonade, greller Nagellack und ein aufziehbarer Hammerwerfer aus Plastik, der seine Auftritte jedes Mal mit einem Sturz vom Tisch beendete. Wacho hat mit Clara gespielt, dass sie ihn ins Krankenhaus bringen müssen, draußen in der Stadt, und Anna hat daneben gesessen und gelächelt, das sah schön aus und fühlte sich gut an. Aber Anna hat auch noch gelächelt, als sie längst wegwollte, und Wacho begriff erst im Nachhinein, dass ein Lächeln nicht immer Gutes bedeuten muss.
»Ich hole sie jetzt«, sagt Clara und: »Marie«, als hätte er nicht verstanden, wen sie meint. Wacho nickt, lässt sich auf seinen Stammplatz sinken, schlägt das Album wieder auf, beim Winterrodeln vor einigen Jahren, und bald kommt Clara mit der schlafenden Marie auf dem Arm, geht wortlos an Wacho vorbei und hinaus, und Eleni kommt mit Jula und Jules die Treppe herunter. Sie lassen ihm keine Ruhe, immer sind sie alle da, er würde auf der Stelle in eine möglichst große Stadt ziehen, um ihnen aus dem Weg zu gehen, wenn er dann nicht ganz und gar verloren wäre. Wacho richtet sich auf,
spielt noch einmal den Bürgermeister. »Was kann ich tun?«, fragt er mit tiefergelegter Stimme.
Mit Marie auf dem Arm tritt Clara aus dem Rathaus. Die Luft ist noch frisch, es riecht nach Tau, und neben dem Auto steht der Fuchs. Er hat auf sie gewartet. Auf Marie und vielleicht auch auf Clara. Bis heute hat sie es geschafft, sich nichts anmerken zu lassen, niemand weiß, dass auch sie ihn sieht. Jetzt mit Marie auf dem Arm und im Moment der Flucht fühlt Clara sich sicher.
»Was willst du eigentlich?«, flüstert sie und hockt sich vor das Tier. Marie auf ihrem Arm träumt, und Clara droht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie taumelt, kann sich aber abstützen, sie sieht dem Fuchs direkt in die Augen. Bei Hunden soll man das nicht tun und auch bei bissigen Füchsen ist es vermutlich nicht die beste Idee. Aber der Fuchs beißt nicht zu, er schnüffelt nicht einmal. Mit unwirklich grünen Augen starrt er sie an. Clara wartet darauf, dass der Fuchs zu sprechen beginnt.
»Ich sehe dich«, sagt Clara. »Ich sehe dich schon die ganze Zeit. Seit Marie das erste Mal von dir erzählt hat, sehe ich dich, und ich kenne auch die Bisswunden. Du beißt nur Verantwortliche und Gelbhelme.« Der Fuchs sieht jetzt nur noch Clara an, er spitzt die Ohren. »Du bist ein fleißiger Fuchs«, sagt Clara, und allein Marie in ihrem Arm hält sie davon ab, dem Fuchs bei diesen Worten den Kopf zu kraulen. »Aber jetzt reicht es, jetzt wird es Zeit für dich zu verschwinden.«
Clara erwartet, dass der Fuchs sich in Luft auflöst. Aber auch das tut er nicht. Vielleicht erwartet Clara insgesamt zu viel von ihm. »Löwenfuchs«, murmelt Marie im Schlaf, und Clara erinnert sich an ihren Plan vom schnellen Abgang. Vorsichtig richtet sie sich auf. Der Fuchs beobachtet jede ihrer Bewegungen. »Lass Marie in Ruhe«, sagt Clara. »Marie hat keine Zeit mehr für dich. Marie kommt bald in die Schule.« Der Fuchs senkt traurig den Kopf, er wendet sich ab und trottet
davon. Er geht in Richtung Brunnen und er löst sich auf dem Weg dorthin nicht in Luft auf. »Das macht nichts!«, ruft Clara. »Bleib ruhig hier. Geh doch unter. Hauptsache, du lässt Marie in Frieden.« Sie hat alles erledigt, jetzt kann sie gehen. Clara kann mit Robert und Marie ein ganz neues Leben beginnen. Eins, das dem alten nur ganz vage ähnelt. Clara entscheidet sich um, setzt Marie noch nicht ins Auto, sondern nimmt sie mit zurück ins Rathaus. Obwohl der Fuchs nicht mehr zu sehen ist, traut sie sich nicht, Marie allein hier draußen zu lassen.
»Wir fahren«, sagt Eleni. Sie sieht zufriedener aus als je zuvor in den letzten Wochen. »Jula und ich, Jules bleibt noch. Die Flutung will er noch
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