Bevor Alles Verschwindet
Eleni.
»Das macht auch nichts, du bist hier«, sagt er und schwimmt
auf sie zu. Eleni ist immer noch nicht kalt, aber sie spürt den Wind an der nassen Kopfhaut und sie fragt sich, was sie hier tut, mit diesem Bürgermeister am Rande des Wahnsinns. Sie treibt sich wohl selbst dort herum, am Rande von allem, was zulässig ist und normal. Sie alle gehören nicht mehr zu der Welt da draußen, sie schwimmen durch ihre Endzeitstimmung, seit fast einem halben Jahr erleben sie letzte Tage und jede Sekunde kann hier ein Abschied stattfinden. Wie Robert vorhin verschwunden ist, das zum Beispiel, das kommt doch da draußen hoffentlich nicht vor, normalerweise. Ihnen ist das Normalerweise gestohlen worden, fällt Eleni auf, mitten in der Nacht und im Fluss.
Sie könnte Wacho anzeigen wegen David, wahrscheinlich käme er in Therapie, nicht in den Knast. Aber sie wird ihn nicht melden, natürlich nicht. Eleni fröstelt, jetzt hat die Kälte sie doch gepackt, immerhin, zu einer normalen Reaktion ist sie noch fähig. Sie schwimmt und watet durch das unruhige Wasser, tritt auf seltsame Dinge und ist froh, dass sie ihre Schuhe angelassen hat. Erst als Wacho direkt hinter ihr ist, bemerkt sie ihn. Sie bleibt stehen, er auch, sie berühren sich nicht, sie haben sich noch nie berührt, und doch waren sie immer dicht beieinander. Jede Krise fand nachbarschaftlich statt, und wenn es gut ging, ging es bei beiden gut. Aber das reicht jetzt. Eleni schiebt sich aus der Nähe, klettert die Böschung hinauf, auf allen vieren.
»Wo gehst du hin?«, fragt Wacho.
»Zu den Kindern, wohin sollte ich sonst gehen, und ja, leider gehe ich auch in dein Haus.«
»Anna wird zurückkommen«, sagt Wacho.
»Das ist mir egal«, sagt Eleni und wringt ihre Strickjacke aus, sie fühlt das Formular in der rechten Tasche, das kann sie so nass und zerknüllt nicht mehr verwenden. Sie könnte sich ein neues holen, von Greta zum Beispiel, die hat mindestens drei bekommen. Wacho ruft nach ihr, sie soll ihn nicht
allein lassen, er fürchtet sich im Dunkeln und außerhalb seines Hauses und vor diesem Fluss, der sich fremd benimmt. Eleni geht zurück, sie schafft es nicht, ihn dort stehen zu lassen, er hat zu viel getrunken, er könnte stolpern, umkippen und ertrinken. Sie rutscht mehrmals aus, als sie versucht, ihn die Böschung hinaufzuziehen, er fällt zurück in die Traufe, schwer und unbeweglich wie ein Baumstamm. Eleni wiederholt immer wieder, dass sie es schaffen werden, Wacho aus dem unglaublichen Fluss zu holen. Das ist zu schaffen, das ist nicht eines der Dinge, die für sie unvorstellbar sind, trotz Flussgott, trotz Opfergedanke, trotz dem plötzlichen Einfall, es könnte vielleicht gar nicht so schlecht sein, wenn Wacho heute Nacht hier ertrinkt.
»Lass mich«, keucht Wacho, nachdem sie zum ungefähr siebten Mal ihre Hand nach ihm ausgestreckt hat. »Lass mich, ich warte bis morgen, dann holen wir Jules und der zieht mich dann hier raus.«
»Nein«, sagt Eleni. »Das machen wir nicht. Du bist viel zu schwer für Jules.«
»Dann lass mich«, sagt Wacho. »Dann warte ich hier im Wasser, bis Anna kommt, ihr wird schon was einfallen.« Aber Eleni lässt ihn nicht warten, darauf, dass sein größter Wunsch in Erfüllung geht. Sie greift sich Wachos Arm ein letztes Mal, zieht seinen trägen Körper mit aller Kraft aus dem Wasser und die Böschung hinauf, ihr Rücken schmerzt, und erst jetzt merkt sie, wie abgestanden der Fluss riecht, nach Alter und Müdigkeit, nach Tod und Verwesung. Eleni lässt Wacho an der Traufe zurück. Sie geht in Richtung Friedhof, ganz automatisch biegt sie ab und nähert sich dem eisernen Tor. Wie seltsam, denkt sie, dass das Tor noch steht, wie seltsam, dass alle Pietät für die Toten verbraucht wird.
Spätestens als Greta Milos und Davids kleines Haus erreicht, das die Gelbhelme mittlerweile auf einen Transporter geho
ben haben, weiß sie, dass sie ihn nicht finden wird, ihren Baum. Dass da keine Mauer sein wird, keine Schlucht, nicht der Tod, nicht hier, nicht heute und schon gar nicht aus diesem Grund. Sie werden sie nicht beerdigen können, neben Ernst. Sie werden sie dort nicht beerdigen und mit Beton übergießen können, weil Greta nicht tot, weil Greta nicht fassbar sein wird. Greta denkt vor sich hin, in weniger als dreihundert Metern wird sie die ehemalige Grenze des Ortes erreichen. Zweihundert Meter noch, so ungefähr, bei achtzig km/h fühlt sie sich, als würde sie fliegen, und spürt jetzt Ernst hinter sich
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