Bevor Alles Verschwindet
um Milo gelegt hat.
»Wo gehst du hin, Jula?«, fragt Eleni und dann lächelt sie: »Ich weiß schon.«
»Tut mir leid«, sagt Jula. »Aber ich muss wohl.« Eleni nickt, lässt Milo los. »Weißt du was«, sagt sie, und Jula setzt sich neben sie auf die Treppe, weil das, was Eleni zu sagen hat, etwas länger dauern wird. Jula schluckt, jetzt kommt er also, der Moment für bislang Verschwiegenes, und sie hatte schon gehofft, den würde sie verpassen.
»Vor dir und Jules gab es schon einmal ein Kind und ich hab's verloren«, sagt Eleni fest. Lebendiger als in diesem Moment war es nie, der Beton kann ihm nichts mehr anhaben. Sie hat es ausgesprochen, es ist da.
»Mein Kind«, sagt Eleni.
Jula wartet darauf, dass noch etwas folgt, aber Eleni lächelt nur und schweigt, und auch Jula bleibt still. So sitzen sie eine Weile.
»Ich werde euch besuchen«, sagt Jula schließlich, Eleni nickt, »ich habe Jules einen Brief geschrieben«. Jula merkt, wie erstaunt ihre Mutter über diese Information ist. Jula spricht nur selten über Jules, normalerweise geht die Welt der Zwillinge die Eltern nichts an, das war schon immer so, noch so ein Neubeginn, so ein Umgewöhnen.
»Das ist gut«, sagt Eleni und lacht plötzlich laut auf.
»Was ist los?«, fragt Jula.
»Es ist doch nur ein Ort«, sagt Eleni, und das hat sie irgendwann schon mal gesagt, in den letzten Monaten, Wochen, Tagen, Stunden, Jula weiß nicht mehr wann, es ist auch egal, es fühlt sich ohnehin erst jetzt richtig an.
»Komm mit«, sagt Jula. »Ich fahre dich auf dem Weg bei Jeremias vorbei, der freut sich, wenn du morgen früh neben ihm liegst.«
»Und Jules?«, fragt Eleni.
»Du schreibst ihm auch einen Brief.«
»Ich weiß nicht.«
»Ich aber«, sagt Jula. »Das ist die beste Idee seit langem.« Eleni nickt und sieht zur Bäckerei hinüber.
»Pack schon mal die Sachen zusammen, Jula, ich komme gleich.«
Es können nur noch wenige Stunden bis zum Tagesanbruch sein, als Wacho den Blick endlich von der Traufe löst, seinen wuchtigen Körper die Böschung hochzieht und immer noch nicht genau weiß, was das sollte, dieses Bad in der Traufe. Er muss sich beeilen, weil es jetzt so weit ist, weil sie heute zurückkommen kann, das hat er eben verstanden, mit einem Mal war der Gedanke da: Heute wird er Anna wiedersehen.
Wacho weiß, dass sie in der Küche sein wird, wenn er nach Hause kommt. Sie wird neben dem Tisch stehen und durch das Album blättern, sie wird nicht mehr zum Fenster schauen und hinaus und weit, weit weg, sie wird da sein, um Erinnerungen nachzuholen von verpassten Jahren, sie wird sich von Ereignissen erzählen lassen, die Wacho ganz allein für sie inszeniert hat, um etwas vorweisen zu können, wenn sie zurückkommt, für diesen Tag also das alles. Sie wird die Hand auf eines der Bilder legen, die David in Verkleidung zeigen. Sie wird das tun, weil sie einen verkleideten David nicht wiedererkennen muss. Wacho wird sie umarmen, ohne zu zögern, wird er zu ihr gehen, sie festhalten, das ist das Wichtigste, das ist der Test, ob sie nicht bloß ein Geist ist, der ihm einen Gefallen tun will, das ist dann der Beweis, wenn sie sich nicht in Luft auflöst.
Er wird die Koffer packen, er wird alle Türen abschließen. In der Küche wartet sie auf ihn, sie verlassen das Haus, und sie wird nach David fragen, wenn sie zum Auto gehen, das er außerhalb des Ortes nicht mehr fahren darf. Er wird ehrlich sein, er wird ihr sagen, dass er David im Tausch gegen sie fortgeben musste; damit sie zurückkommen konnte, musste David verschwinden. Irgendwie besteht da ein Zusammenhang.
Anna wird traurig sein, selbstverständlich, er ist ihr Sohn, aber sie wird damit zurechtkommen, so wie auch er zurechtkommen wird. Sie wird traurig sein, aber nicht trauriger als damals, in der Nacht, als sie mit geschlossenen Augen nach Hause fuhr. Als sie nach einem rauschenden Fest im Nachbarort singend das Reh erwischte, als sie kreischend vor Schreck auf das Lenkrad einschlug und er sie nicht beruhigen konnte.
Wacho läuft am Modell vorbei. Das Glas ist trüb, aber der Mond spiegelt sich. Anna wird da sein, da ist sie schon, da steht sie über das Album gebeugt, und Wacho bleibt die Luft weg, tatsächlich und wortwörtlich, er bekommt überhaupt keine Luft mehr und steht wie angewurzelt. Aber das ist sie
nicht, die Frau am Tisch kennt er mittlerweile besser als seine Anna.
»Schöne Fotos«, sagt Clara, klappt das Album zu und nimmt ihr Senfwasserglas mit den fast
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