Bevor Alles Verschwindet
auf dem Sitz, auf dem sie abwechselnd saßen, die Wange an den Rücken des anderen gepresst, den Geruch der Lederjacke einatmend, und sie beide gehüllt in Pfeifenrauch, Cremon Latakia Blend. Warum nicht das für immer: Mit Ernst fliegen. Greta stellt sich das vor, an der Stelle, an der es noch etwa hundert Meter sind. Ernst presst seine Wange an Gretas Rücken, sie trägt heute keine Lederjacke, Greta trägt gar keine Jacke, nur Hose und Pullover, Ernsts Lieblingspullover. Noch fünfzig Meter, Ernstchen, denkt Greta, mein Ernstchen, du und ich, wir sind doch zusammen, uns kann doch so ein Tod nicht voneinander trennen. »Ha!«, ruft Greta. »Der trennt uns nicht!«
Eleni hört ein Motorengeräusch, vielleicht stammt es von jemandem aus einem der nahe gelegenen Dörfer, von einem, der hier zum Plündern war und nun frustriert wegfährt, weil nichts mehr zu finden ist außer SchuttSchuttSchutt und ein paar Randgestalten.
»Das sind dann wir«, sagt Eleni. »Diese Randgestalten sind dann wohl wir.«
Vielleicht war das kein Fremder, wahrscheinlich war das Greta auf dem Motorrad, Greta ist nun also auch weg. Eleni wandert über den Kiesweg, das Kreuz blitzt im Mondschein. Greta hat ganze Arbeit geleistet.
Vier Parzellen geradeaus, dann links, beim Wasserbecken
rechts und bei der Kirchenmauer, dort ist das Grab. Dem Friedhof fehlt in diesem Jahr der Duft, es fehlen die Leuchtkäfer, vom Sommer geblieben ist einzig die weiche Nachtluft. Seit der Verkündung im Tore war sie so oft wie möglich hier, wann immer sie sich davonstehlen konnte, heimlich und nicht einmal Jeremias hat etwas bemerkt. Eleni bleibt stehen, senkt den Kopf, blickt auf ein Stück Erde ohne Blumen, ohne Stein. Sie hatte geglaubt, das Grab selbst würde ihr nichts bedeuten, das Kind schon, aber das fehlt ihr bereits seit sehr vielen Jahren. Sie hat die Zwillinge, sie sollte zufrieden sein, trotzdem könnte sie heulen. Sie denkt zurück an den Tag, als es kam, es kam viel zu früh, und sie war so froh, niemandem davon erzählt zu haben, nicht einmal Jeremias. Es war noch neu mit ihnen beiden und sie selbst sehr jung, und hätte er damals von ihr verlangt, sich zu entscheiden, dann wäre ihre Entscheidung für das Kind gefallen, nicht für ihn.
Er hatte nichts mitbekommen, der Bauch war fast nicht zu sehen gewesen. Greta und Ernst haben ihr geholfen. Zwei Tage lang ist Eleni in der Nebenkapelle untergetaucht, hat schweigend Gretas Kräutertees getrunken und keine Sekunde an Jeremias gedacht. Keiner von ihnen hat geschlafen, ununterbrochen haben sie den stillen Winzling beobachtet und in der Nacht sind sie dann auf den Friedhof gegangen. Ernst hat das Grab ausgehoben und Eleni die kleine Decke hineingelegt. Erde auf Decke, ein Vergissmeinnicht gestohlen aus Monas Blumenteppich und ein gesummtes Gute-Nacht-Lied und Erinnerungen in der hintersten Ecke ihres Gedächtnisses, und am nächsten Tag ist sie zu Jeremias zurückgekehrt und alles und nichts war wie zuvor. Greta und Ernst haben es für sich behalten, ihr Geheimnis. Sie müssen sich auch um die Formalitäten gekümmert haben, Eleni hat nie danach gefragt. Das Kind hatte noch nicht einmal einen Namen, das Kind hatte nur diesen Ort.
»Fürchte dich nicht, bitte fürchte dich nicht«, flüstert Eleni.
Sie lässt das Formular auf die Erde fallen, es fällt nass, es fällt wie ein Stein.
Behutsam öffnet Jula die blaue Tür. »Schläfst du schon?«, fragt sie leise und legt sich vorsichtig neben Jules auf die Matratze. Er antwortet nicht, aber wahrscheinlich tut er nur so, als würde er schlafen. Jula zieht den Brief aus der Hosentasche, schiebt ihn unters Kopfkissen, da steht nichts Neues drin, aber alles, was sie ihm noch sagen möchte. Es ist nicht so, als würden sie einander nicht wiedersehen, das werden sie, ganz bestimmt, aber sie hat das Gefühl, so ein Brief müsse sein, wenn sie schon geht vor der Zeit, nur um ihrem Gelbhelm zu beweisen, dass sie bei ihm sein will.
Sie geht die Treppe hinunter, Wacho sitzt heute nicht am Küchentisch, der Raum wirkt leer ohne ihn, aber da liegt noch das Album: David als Indianer verkleidet, als Pirat und als Pinguin. Jula überlegt, ob sie es mitnehmen soll, bei ihr wäre es besser aufgehoben als bei Wacho, aber das ginge zu weit. Die Picknickdecke, die nimmt sie mit, als Erinnerung an die letzten Tage, das Album bleibt hier. Jula zieht die Schuhe an, die Jacke, vorsichtshalber, tritt hinaus und stößt auf Eleni, die auf der Treppe sitzt und ihren Arm
Weitere Kostenlose Bücher