Bevor Alles Verschwindet
mitbekommen.«
»Ich habe noch etwas zu tun«, sagt Jules verschlafen, und Wacho hat die starke Vermutung, dass es nichts Vernünftiges sein wird, was Jules vorhat. Es ist nicht sein Problem, zum Glück nicht, und trotzdem sagt Wacho:
»Ach lass doch, fahr mit. Hier gibt es nichts mehr, was man tun kann.«
Natürlich ändert Jules daraufhin nicht seine Meinung, selbstverständlich kann Wacho ihn von nichts abbringen.
»Hab ein Auge auf ihn«, sagt Eleni, und Wacho nickt erneut, überhaupt: Nicken, das kann er am allerbesten. Nicken und nichts tun, was irgendetwas besser machen könnte.
Clara kommt herein, mit Marie auf dem Arm steuert sie eilig auf die Treppe zu. »Ich hole noch schnell das Gepäck.«
»Soll ich Marie so lange nehmen?«, fragt Eleni. Clara schüttelt so vehement den Kopf, als fürchtete sie, Eleni könne Marie entführen. »Wie du meinst«, sagt die und tritt verwundert vor Wacho. Sie umarmt ihn nicht: »Reiß dich zusammen und vergiss Anna endlich.«
Bevor Wacho etwas entgegnen kann, hat Eleni sich schon wieder abgewandt, hält Jules im Arm.
»So«, sagt Eleni. »Dann mach es mal gut, junger Mann. Pass auf dich auf.« Sie klopft Jules auf die Schulter, auf den Rücken, auf den Kopf. »Und sobald das hier vorbei ist, kommst du zu uns, verstanden? Du musst dein Zimmer selbst streichen, damit das klar ist, darum kümmern wir uns nicht.« Eleni sagt das wie die sehr strenge Mutter, die sie nicht ist, und sie lächelt dabei und spricht einen Text, den Text einer Mutter, die ihren Sohn daran erinnern will, sie nicht zu vergessen. »Es sind ja nur ein paar Tage«, sagt sie und: »Dann kommst du nach.«
»Genau«, sagt Jules. »Ich komm' ja dann.«
Eleni nimmt ihre Tasche, geht in Richtung Diele. »Ich warte draußen auf dich«, sagt sie zu Jula, sie nickt Wacho zu, sie nicken so viel, ihnen müsste übel werden davon, aber ihnen wird nicht schlecht, jedenfalls nicht mehr hier.
Eleni ist weg, Jula und Jules stehen einander gegenüber, schweigend, und Wacho überlegt, ob er gehen sollte, aber das hier ist seine Küche, sein Tisch, sein Album, noch ist all das seins und er selbst Teil davon. Er starrt auf das Bild eines rotwangigen Davids im Schneeanzug, und die Zwillinge sprechen nicht und bewegen sich nicht. Clara stolpert die Treppe herunter, mit zwei Taschen an der Schulter und der immer noch schlafenden Marie auf dem Arm. Sie bleibt vor dem Tisch stehen, hebt kurz die Finger von Maries Rücken, formt mit dem Mund ein Auf-Wiedersehen, nickt den Zwillingen zu und verschwindet.
»Gut«, sagt Jules. »Dann mach es mal gut.«
»Du auch«, sagt Jula. »Und pass auf dich auf, und bau keinen Scheiß, das nehme ich dir sonst übel.«
»Wieso sollte ich?«, sagt Jules.
»Weil du eifersüchtig bist, enttäuscht und beleidigt. Und allein«, sagt Jula.
»Quatsch«, sagt Jules. »Nur weil du zu dem albernen Federvieh fährst?«
»Na ja«, sagt Jula und zieht ihn an sich, sie zieht mit Kraft, Wacho rechnet mit einem Schleifgeräusch auf dem Boden, aber da kommt keins. Jules hat keine Schuhe an. »So, jetzt reicht's«, sagt Jula. Sie lässt Jules los, klopft Wacho auf den Rücken, Milo wird gestreichelt, Wacho geklopft, auf ihm laden sie Hoffnung ab oder nageln sie Sorgen fest, so ganz klar ist es weder ihm noch den anderen.
»Macht's gut«, ruft Jula, und dann öffnet sich noch einmal die Tür und schlägt zu. Julas Verschwinden ist ein Bühnenabgang, laut und allumfassend. Sie ist weg und sie kommt nicht zurück.
Wacho erhebt sich schwer, tritt zum Fenster. Ein paar Sekunden später steht Jules neben ihm. Sie sprechen nicht miteinander, während sie zusehen, wie Clara sich draußen von Eleni verabschiedet, wie Jula Marie über den Kopf streicht, ihr etwas zusteckt, es sieht aus wie ein Schlüsselanhänger, und Marie schläft in ihrem Kindersitz und merkt nichts. Marie wird entführt, denkt Wacho. Sie will gar nicht weg. Das Bild der schlafenden Marie erinnert Wacho an etwas, das ihm vor Ewigkeiten einmal sehr wichtig war. Es ist nur ein Gedanke, er kann ihn nicht fassen. Anna, denkt Wacho, verdammt. Das hier hat irgendwas mit seinem sichersten Moment zu tun, aber was?
Auf dem Platz startet Clara den Motor, sie schaltet die Scheinwerfer an, ihr Wagen rollt im Schritttempo einen Feldweg entlang, der vor Urzeiten einmal eine Straße war.
Eleni steht noch am Auto, die rechte Hand auf der geöffneten Wagentür, Jula sitzt schon auf dem Beifahrersitz, zieht die Schuhe aus und stemmt die Füße gegen die
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