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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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donnert Wacho, als er die Linie an seinem getünchten Haus entdeckt. »Das kann ja wohl nicht wahr sein, so eine Schweinerei, denen werde ich –.« Was er denen antun will, verrät Wacho nicht, er hat ohnehin keine Zuhörer, die Mehrheit schrubbt schon wieder. Es hat sich herumgesprochen, dass man mit dem aggressiven blauen Mittel vom Supermarkt eine größere Chance auf Erfolg haben soll als mit dem ökologisch verträglichen aus dem Laden. Man hilft sich aus, man reibt und flucht, aber die roten Markierungen lassen sich nicht entfernen. »David«, brüllt Wacho, »David, komm her!«
    Greta sieht, wie Wacho ins Haus stürzt und wie oben in Davids Zimmer das Licht angeht, sie hört ein Poltern. Alle hören die Schreie, einigen sich auf ein Mit-dem-ist-es-durchgegangen, werfen diesen bestimmten Blick einander zu und nicht dem Rathaus, den blickdichten Gardinen. Auf der weißen Treppe taucht erneut Wacho auf, diesmal mit David im Schlepptau, David in Socken, mit T-Shirt und rutschender Jeans. Dann: David im Licht der Außenlaterne, bald schrubbend und mit blutender Nase.
    »Ach nein«, sagt Greta und rührt weiter in der Glühweinkanone, die der Wirt im Austausch gegen das Schrubben einiger im Tore mehr als woanders beheimateter Trinker und zum Wohle des Ortes gespendet hat. Greta weiß, dass man in einem Glühwein nicht ständig rühren muss, aber sie hat keine Ambitionen, ihre Kapelle zu schrubben, und allein will sie heute nicht sein. Sie würde David gern einladen, sich zu ihr zu stellen und sich aufzuwärmen, aber das ist nicht möglich. Stattdessen wartet sie, bis Wacho wieder im Haus verschwindet, nimmt dann einen der Steingutbecher, füllt ihn bis zum Rand mit dem heißen Wein und trägt ihn die weiße Treppe hinauf zu David.
    »Hier«, sagt Greta, und David zuckt zusammen. »Der ist warm.« David blickt hinüber zur Tür, von Wacho noch keine Spur, er nimmt den Becher in beide Hände. Ein blaugrauer Mensch, heute schon wieder. Greta mustert möglichst unauffällig Davids Nase. Nicht gebrochen. Das Blut ist mittlerweile getrocknet, vielleicht gefroren. Sie könnte es abwischen, aber das ginge zu weit. »Geh lieber rein«, sagt Greta. David schüttelt den Kopf, und wahrscheinlich verbrennt er sich am Punsch die Zunge. Er ist zu höflich und zu eifrig bemüht, Greta zu zeigen, wie sehr er die Geste zu schätzen weiß, auch wenn er eigentlich keinen Alkohol trinkt, Greta wird sich das niemals merken. »Langsam«, sagt sie, »ganz langsam.« David nickt, dann trinkt er weiter, so hastig wie zuvor. »Es ist wichtig, dass ihr jetzt nicht durchdreht«, sagt Greta so sachlich wie möglich.
    »Ich hab aus dem Fenster geguckt, keine Spur von Milo«, stammelt David, er hat nichts mehr gemein mit dem Menschen aus dem Tore, mit jenem Kerl, den seine Ruhe in der Wirklichkeit verankert, der meistens schweigt, aber im richtigen Moment das Richtige sagt, wenn jemand ihm dumm kommt, David, der eigentlich allein auf sich aufpassen kann. David ist mitten hineingeraten in dieses Chaos von Leben und
Endzeitstimmung. Greta versteht nicht, was David redet, sie will ihn beruhigen.
    »Das kommt vor. Das sind seit kurzem merkwürdige Zeiten«, sagt Greta, und David nickt. »Du findest ihn bestimmt wieder«, sagt sie, obwohl sie nicht weiß, wer dieser er ist, dieser Milo, und ob das überhaupt jemand ist, der wiederkommen kann.
    »Ich weiß nicht«, sagt David und starrt in seine Tasse. »Ich weiß nicht, was das alles ist.«
    »Weltuntergangsstimmung«, sagt Greta. »Sieh dich doch mal um, sieh dich doch mal an.« David verzichtet darauf, sich im Punsch zu spiegeln. »Manche Dinge gehen gut aus«, sagt Greta.
    »Das hier nicht, oder?« Greta gibt keine Antwort, sie hält sich nicht für sehr weise, aber sie ist definitiv praktisch veranlagt.
    »David, du gehst jetzt rein und ziehst dich vernünftig an. Schlag dich meinetwegen mit deinem Vater, aber zieh dir bitte Schuhe an und einen Pullover und eine Jacke, vielleicht auch noch eine Mütze, ich bitte dich. Sonst holst du dir eine Lungenentzündung, und dann geht das alles für dich im Krankenhaus aus oder schlimmer. Du willst doch nicht mit unter den Beton, oder?« David wirkt unschlüssig, schüttelt dann aber den Kopf, sieht zur Tür.
    »Ich weiß nicht, was er hat«, sagt David leise, und Greta widersteht erneut dem Wunsch, ihm einen Hunderter in die Hand zu drücken und den Rat zu geben, sich schnell aus dem Staub zu machen, solange es noch geht. Das hier wird nicht mehr besser.

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