Bevor Alles Verschwindet
sagen sie sich. Die kommen noch und filmen und berichten, und eine Welle der Empörung wird es geben und Demonstranten von überall her und heißen Kaffee für alle auf dem Hauptplatz und Plakate und Lärm und Polizei und dann schließlich: Frieden. Die Einsicht der Verantwortlichen, dass man diesen Ort auf keinen Fall entfernen darf. Sie werden sich entschuldigen, vielleicht gibt es sogar Entschädigungen, auf jeden Fall aber Anerkennung, Touristenbusse und ein großes Fest im Sommer. Hunderte Jahre Ortsgeschichte werden gefeiert an einem einzigen Tag. Und alles, alles wird gut.
Greta wacht auf, als die Turmuhr Mitternacht schlägt. Vorsichtig bewegt sie ihren verspannten Nacken, die trotz der dicken Lederfäustlinge kalten Finger. Sie hat geträumt, im Schlaf hat sie einen Fuchs gekrault, der ihr auf den Schoß gesprungen ist wie der Märchenoma die alte Katze. Greta untersucht die Decke, sie findet kein blaues Haar. Das beruhigt sie, sie ist wohl wirklich wach. Aber dennoch, es ist so still. Oben hat sich der Mond wieder in die Wolken gelegt, die Hü
gel in der Ferne kann sie nicht erkennen, nicht die Umrisse des Kirchturms. Greta hat das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, nicht einmal die Verbindung zu Ernst spürt sie mehr. Langsam steht sie auf. Sie ist allein auf dem Hauptplatz, die anderen müssen zur Vernunft gekommen sein und sich ins Bett gelegt haben. Selbst Mona. Aber warum hat sie niemand geweckt?
Als die Wolken den Mond freigeben, sieht Greta die anderen. Da sind die Salamanders, da stehen David und Wacho vor dem Rathaus, da sitzt Mona auf der untersten Stufe ihres Hauses und gräbt die Hände tief in die Erde. Man hat sie also nicht vergessen. Greta geht auf Jeremias und Jula zu. »Na, seid ihr immer noch am Schrubben?«, ruft sie. Ihre Stimme klingt zittrig und schwach, klingt alt, schafft es nicht bis zur Familie Salamander. Gelbes Licht fällt vor Greta aufs Kopfsteinpflaster, das kann nicht vom Mond stammen, der Mond scheint kühler. Greta blickt hinauf zum Salamanderhaus. Die Vorhänge sind offen, da steht Jules am Fenster und sieht zu ihr hinab. Fragend schaut Greta ihn an. Sie bildet sich ein, Jules würde ihr zunicken, am nächsten Morgen aber wird sie sich nicht mehr sicher sein, ob sie das nicht doch nur geträumt hat. Ihr kommt alles, was seit Monas Schrei, seit der Entdeckung der Zeichen geschehen ist, irreal vor. Warum bewegt sich hier niemand? Warum stehen sie still, die Salamanders und die beiden Wacholder-Männer, was sucht Mona da im Boden? Im kargen Mondlicht sehen sie aus wie Statuen, fern und fremd.
Greta bleibt stehen, zögert. Sie zweifelt daran, ob es eine gute Idee war, noch näher an die versteinerten Familien heranzutreten. Vielleicht ist irgendein Zauber am Werk. Und was will der blaue Fuchs nur von ihr? Warum streicht er um ihre Beine, warum sieht er sie forschend an? Was erlaubt der sich eigentlich, wie kommt er dazu, aus ihrem Traum auszubrechen und sich einfach so selbständig zu machen?
»Geh weg«, flüstert Greta, »verschwinde!« Der Fuchs gehorcht und läuft zum Brunnen. Zwar sieht es für Greta so aus, als würde er hineinspringen, aber vermutlich springt er dahinter, hat er dort eine Maus entdeckt und erlegt. Als Greta sich vom Brunnen weg und zu den Salamanders wendet, dreht sich die Welt mit ihr, nimmt sie wieder ihren Lauf, haben sich die Salamanders aus ihrer Erstarrung gelöst. Müde, aber freundlich sehen sie Greta an. Als wenn nichts gewesen wäre.
»Vielleicht sollten wir langsam mal Schluss machen für heute«, sagt Jeremias.
»Stimmt«, sagt Eleni und lässt den Schwamm sinken. Der ist vollkommen trocken, so als hätte sie ihn seit Stunden nicht mehr benutzt. Jula gähnt demonstrativ.
»Ja, mir reicht's auch. Ich mach morgen weiter.«
»Mal abwarten«, sagt Jeremias und streicht Jula über die Wange. »Vielleicht lässt sich das alles ja doch noch anders regeln«.
»Ja, klar«, sagt Jula, aber sie ist wohl zu müde, um wütend zu werden.
»Schatz«, sagt Eleni, zieht Jula dicht an sich ran, gibt ihr einen Kuss aufs Haar. Greta überlegt, ob sie Weihnachten dieses Jahr bei den Salamanders verbringen soll, und dann fällt ihr ein, dass sie Weihnachten schon bei Ernst sein wird und die Salamanders dann längst nicht mehr hier sind.
Jahr für Jahr wurde sie eingeladen, freundlich abgelehnt hat sie immer und allein gefeiert mit Ente und Punsch und den Weihnachtssendungen, und später ist sie mit Ernsts Nachttischbuch in der Hand über die letzte
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