Bevor Alles Verschwindet
fragt sich Greta, die schon einiges erlebt hat. Und das, obwohl es sie dieses Mal wirklich etwas angeht.
»Wird das Jahrhundertfest stattfinden?«, fragt Robert Schnee besorgt, der neben Greta balanciert, und Clara Schnee mustert ihren Mann wie ein Insekt. »Ich meine ja nur«, sagt Robert. »Ich probe schon.«
»Es steht doch noch gar nicht fest, dass das wirklich passiert«, sagt Jeremias ruhig wie immer, wenn auch ein wenig beklommen.
»Nee, wenn wir unsere genialen Demos machen, dürfen wir den Ort bestimmt behalten«, zischt Jula in seine Richtung.
»Jula«, sagt Jeremias.
»Was?«
»Du nervst. Und wo ist eigentlich dein Bruder?«
»Kein Plan«, sagt Jula und observiert hinter sich die Pinnwand, als hätte Jules ihr dort einen Hinweis hinterlassen. »Der wird schon irgendwo sein.«
»Vermutlich«, sagt Jeremias und: »Momentan ist alles ziemlich durcheinander, was?« Jula nickt, und zufrieden sieht Greta, wie sie ihren Vater anschaut ohne Spott in den Augen, ohne verzogenen Mundwinkel, das ist einer dieser Blicke von früher. Einen Moment lang fühlt Greta sich richtig wohl im überfüllten Laden, in der gemeinsamen Empörung gegen unbekannt. Dann hört sie den Schrei.
Die Tür wird aufgerissen, Mona ist zurück. Mit verbundenem Kopf und weit aufgerissenen Augen dringt sie mit ihrer Panik ein in den Raum, in den eigentlich niemand mehr hineinpasst. Mona taumelt, sie hat die Brille nicht auf, die Risse irritieren sie mehr als das Verschwimmen der Welt, sie stößt den Zeitschriftenständer um, Comics, Eisenbahnen, Pornos, alles liegt auf dem Boden.
»Sie sind da«, kreischt Mona, die jetzt keine Zeit mehr hat, an die gerade gefundene Liebe zu denken. Mona sagt es noch einmal ganz ruhig, als wäre sie plötzlich zur Vernunft gekommen: »Sie sind da.«
Greta, die dicht bei der Tür steht, ist eine der Ersten, die den Laden verlässt, um herauszufinden, wovon Mona spricht. Alles normal so weit, die kalte Luft schneidet ihr ins Gesicht. Die Bäume sind kahl, die Straße vor dem Laden ist leer. Greta legt sanft die Hand auf Monas Arm, sie macht sich Sorgen, dass Mona ausgerissen ist aus dem Krankenhaus.
»Was ist passiert, Mona?«, fragt Greta.
»Eben waren sie noch da«, sagt Mona.
»Wer war da?«, fragt Greta, während die Menschen, die eben noch im Laden waren, draußen umherirren, einige in Richtung des Hauptplatzes, ein paar die Straße hinauf, zum kleinen Wäldchen oder zum Friedhof, was auch immer sie da wollen. »Mona, wer?«, fragt Greta. Mona riecht nach Angstschweiß, nach Zwiebeln, nach einem Hauch Kölnischwasser. Vielleicht hat Mona vorgehabt, einen normalen Tag zu verleben, sich wieder an ihren Platz zu begeben und weiterzuma
chen, als ob nichts geschehen wäre. Und jetzt das, nun hat sie schon wieder ein Unheil verkündet. Dazu noch ein unsichtbares, vielleicht ist Mona tatsächlich verrückt geworden. »Bitte, Mona.«
»Was?«
»Was ist passiert?«
»Hier«, ruft Jula. »Hier, Greta, guck mal.« Greta lässt Mona los und geht hinüber zu Jula, die vor dem Laden kniet und die Wand mustert. »Hier hat irgendwer was hingesprayt, das war doch vorhin noch nicht da, oder?« Jula sieht zu Greta auf, die schüttelt den Kopf. »Was ist das?«, fragt Jula, mit dem Zeigefinger zieht sie den roten Schrägstrich auf der Hauswand nach: »Ganz trocken.«
»Das waren sie«, sagt Mona. »Sie haben auch die Bäume besprüht und die anderen Häuser.« Mona steht auf und wandert die Hauswand entlang, hin und her, dabei nickt sie und murmelt unverständliches Zeug. Greta versteht nur Markierung und Abriss und Flutung.
»Ist schon gut«, sagt Greta ruhig. »Ist schon gut, Mona.« Aber natürlich ist es das nicht.
David versucht es erst an der Tür, er wirft sich mehrmals dagegen; das Schloss hält. Er wickelt sich ein T-Shirt um die Faust, dann eine Jogginghose, er schlägt auf die Scheibe ein, aber auch die hält stand. David ist fassungslos. Er ist wütend und schämt sich, dass er es nicht schafft, sein Zimmer zu verlassen, weil es Wacho gelungen ist, ihn hier festzusetzen. Er kann sich das nicht gefallen lassen, nicht jetzt, wo er Milo hat, wo der auf ihn wartet unten beim Schuppen, der eigentlich ein Haus ist, ein Palast. Und nicht nur Milo, auch das Tore und der Wirt werden nicht ewig auf ihn warten, und wovon sollen sie leben, wenn David kein Geld mehr verdient. Wacho wird in den nächsten Wochen nicht wieder ins Lot kommen, seine Beratungen sind schon seit einer Weile völlig
verquer und
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