Bevor Alles Verschwindet
David sollte verschwinden. Aber Greta hat kein Portemonnaie dabei, und sie schiebt David nicht in Richtung Ortsausgang.
»Geh rein«, sagt Greta sanft. David nickt und gibt ihr die Tasse zurück.
»Danke schön«, sagt er und holt tief Luft. Greta würde ihm
gern über den Arm streichen, aber im Dunkeln erkennt sie nicht, wie das Blau und das Grau auf Davids Armen verteilt sind und wo man ihn berühren darf. Greta nimmt doch einen Schluck vom Punsch. Ab jetzt ist ihr alles erlaubt.
»Da ist er!«, schreit Marie. Alle drehen sich zu ihr um. »Da ist mein Fuchs! Der denkt, er ist blau, dabei ist er doch pink, also in echt.« Clara hockt sich neben Marie, fühlt ihre Stirn, auch Robert ist besorgt.
»Das Kind ist völlig überdreht«, sagt Clara.
»Sie hat eben viel Phantasie.«
»Na, die hat sie dann wohl von dir«, sagt Clara und sieht Robert mitleidig an.
»Guck mal, Greta«, ruft Marie. »Mein Fuchs!«
»Schön, sehr schön«, sagt Greta und Marie nickt zufrieden und lässt ihren Schwamm ins Wasser fallen.
»Ich sprech' mal kurz mit ihm, wegen der Flutung, das muss er wissen.«
»Da ist kein Fuchs, Marie«, sagt Clara. Marie macht sich nicht die Mühe zu antworten, sie ist schon weg, auf dem Weg zu dem farbauffälligen Tier.
Als um kurz vor acht der Lieferwagen auf den Hauptplatz fährt und scharf neben der Bäckerei bremst, ist Greta bereits angetrunken, und damit ist sie nicht die Einzige. Auch Clara und Robert, auch Wacho und ein paar andere schwanken in warmem Wohlgefühl. Jemand hat sich an etwas erinnert, er hat seine Gitarre vom Kofferboden geholt, sitzt auf dem Brunnenrand und spielt mit klammen Fingern a-Moll, d-Moll, e-Moll, Freiheitslieder, die einige mitsingen können. Jules springt aus dem Lieferwagen, er wundert sich.
Im Schein der Laternen, markiert mit roten Kreuzen, verhält sich der Ort merkwürdig. Greta macht einen Schritt auf Jules zu, der Arme muss aufgeklärt werden und abgefüllt.
Greta will Jules gerade ansprechen, als Jula an ihr vorbeischießt, auf ihren Bruder zu. Greta beobachtet, wie Eleni und Jeremias ihre Schwämme sinken lassen und abwarten, was sich zwischen ihren Kindern abspielt. Jula ist sich der Blicke bewusst, sie stoppt kurz vor ihrem Bruder, fällt ihm nicht um den Hals, klopft ihm nur einmal gegen den Arm, vielleicht, um sich zu versichern, dass er wirklich da ist.
»Wo warst du?«, fragt Jula.
»Draußen, Post und Markt und dann einfach so«, sagt Jules.
»Warum?«
»Weil ich fahren wollte, und das geht hier nicht.«
»Es hat angefangen«, sagt Jula.
»Das sehe ich«, sagt Jules, »was tun wir dagegen?«
»Schrubben, wie du siehst«, sagt Jula aggressiv. Jules schaut hinüber zu seinen Eltern, die ihre Arbeit am Schrägstrich wieder aufgenommen haben.
»Scheint nichts zu bringen.«
»Nein«, faucht Jula, und Jules greift nach ihrer Hand.
»Lass uns reingehen«, sagt er und: »Das hat doch keinen Sinn so. Lass uns Musik hören und Kakao mit Rum trinken.« Jula befreit ihre Hand aus seiner und sieht ihn entsetzt an.
»Du hast sie doch nicht mehr alle, wir müssen was tun.«
»Das ist doch Schwachsinn, was ihr hier veranstaltet«, sagt Jules ruhig. Jula weicht einen Schritt zurück, den nassen Schwamm in der eiskalten Hand. Alle bekommen mit, dass zwischen den Zwillingen etwas nicht stimmt. Niemand schrubbt mehr.
»Jula«, sagt Jules, es klingt versöhnlich.
»Was?«
»Komm mit rein.« Jula wirft ihrem Bruder den Schwamm ins Gesicht, bückt sich, hebt den Schwamm auf und geht zurück zu ihren Eltern. Auch die anderen nehmen ihre Arbeit
wieder auf, der Gitarrenmann zupft ein Kerkerlied, und Greta kratzt weiter in dem leeren Punschtopf, unter dem die Flamme bald ausgehen wird, in dem Orangenscheiben anbrennen und ein paar Stangen Zimt.
Greta hat darauf bestanden, dass Robert ihr den Lesesessel und ein paar Decken aus der Nebenkapelle hinüberwuchtet, und jetzt sitzt sie in der Nähe des Brunnens, Greta passt auf. Über dem Hauptplatz liegt eine angenehme Stille, die Wenigen, die noch weiterarbeiten, tun es stumm. Stundenlang haben sie beratschlagt, über den Platz hinweg oder von Nachbar zu Nachbar. Sie sind zu keiner Lösung gekommen, aber insgesamt ist man mit dem Tag zufrieden. Immerhin haben sie sich auseinandergesetzt. Die Frage ist nur: Wo bleibt die Außenwelt? Hat sie die Nachricht noch nicht erreicht? Warum wird hier nicht gefilmt? Dann könnte man ihr Tun immerhin als Zeichen des Protestes verstehen. Die werden schon noch kommen,
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