Bevor Alles Verschwindet
Davids und Milos kleinem Haus, mit der Hand auf dem Leder des Sitzes und einem Kaleidoskop voller Erinnerungen. Sie haben in den Fahrtwind gesungen, was ihnen in den Kopf kam und ohne einander zu hören, stundenlang haben sie nicht miteinander gesprochen, aber alles
gewusst, was es zu wissen gab. Dass es gut war, wie es war, und näher sollte Greta dem Sinn des Lebens nie kommen, als auf diesem stinkenden Ungetüm, auf diesem zerschlissenen Thron und angelehnt an ihren Ernst mit dem wilden Haar und dem Blick zum Horizont, an dem für ihn immer nur Greta stand.
Das wollte David bestimmt nicht, aber Greta träumt hier im Stehen von einem sauberen Genickbruch. In drei Monaten, haben die Verantwortlichen vorhin gesagt. Den Friedhof werden sie als Letztes versiegeln, und Greta will ihrem Ernst knatternd auf dem roten Blitz entgegenfliegen. Sanft legt sie die Plane wieder über das Motorrad, leise schleicht sie sich aus dem Haus, als ob hier tatsächlich jemand wäre, den sie wecken könnte.
Jeremias räumt den Tisch ab, stellt das Geschirr in die Maschine, kratzt den restlichen Spinat von seinem Teller in den Aufbewahrungssarg, stellt ihn in den Kühlschrank, trinkt noch einen Schluck Milch, die ist längst abgelaufen. Jeremias schreibt Milch auf den Einkaufsblock neben der Küchentür. Er schreibt auch Streichhölzer und Salz , Dinge, die sie immer vergessen. Er löscht das Licht und wirft einen Blick aus dem Fenster. Draußen nur Dunkelheit, Wolken vor Mond, kein einziger Stern. »Schlaf schön!«, schreibt Jeremias auf die Rückseite eines Kassenbons. Er legt ihn auf den Esstisch, ausgerichtet zur Tür. Wenn Jula sie später zu schwungvoll öffnet, wird der Zettel weggeweht, aber vielleicht passt sie heute Nacht auf. Jeremias geht nach oben, schlafen.
»Schläfst du?«, flüstert David, er beugt sich zu Milo hinüber. Milos Augen sind offen und dunkel, braun oder schwarz oder seltsam blau, Milos Augen sind offenbar Wunder. »Kannst du nicht schlafen?«, fragt David, und Milo nickt. David rückt näher, es ist das erste Mal seit vielen Jahren, dass jemand hier bei
ihm liegt. Ein paar Mal hat David in fremden Betten gelegen, neben vergangenen Ortsbewohnerinnen, neben Mädchen, die schon längst weitergezogen sind, von denen sich aber ein paar noch an David erinnern werden oder auch nicht.
Vielleicht ist es gut, dass David und Milo wenig miteinander reden, so kann David Milo nicht verschrecken mit seiner Vorstellung davon, wie alles richtig wäre, richtig und gut und besser als in echt. David fragt sich, warum gerade Milo hier neben ihm gelandet ist. Worauf wartet er? Denn: Auf irgendetwas muss er warten, viel ist da noch nicht, Milo ist bisher einfach nur da. Vorhin hat er sich die Zähne geputzt. David kann es immer noch nicht fassen. Milo sieht nicht aus wie ein Mensch, der Zahnpasta braucht und der ausspucken muss, wenn zu viel Schaum ist im Mund. Er wirkt wie jemand, bei dem alles einfach so ist, sauber und still und immer mit einer feinen Staubschicht im Haar.
David schwitzt unter der Daunendecke, wenn er allein im Bett liegt, ist die genau richtig. Jetzt passt hier gar nichts mehr und trotzdem alles. David dreht sich auf den Bauch, auf den Rücken, nach rechts und nach links, und als er da ankommt, rutscht Milo näher zu ihm und sieht David an. »Nein«, sagt David. »Ich träume nicht, ich schlafe ja nicht einmal.« Milo grinst, er küsst David auf die Stirn, er küsst ihn auf die Nase und dann küsst er ihn auf den Mund. David küsst Milo auf das Kinn und den Hals, auf das Schlüsselbein. Es fühlt sich noch nicht so an, wie es wahrscheinlich müsste, keiner der beiden benimmt sich wie ein ausgehungertes Tier. David hält Milo fest, ein paar Sekunden auf Abstand, er sieht zur Tür, aber unter der Klinke steht der Schreibtisch, da kann kommen, wer will. David fürchtet sich davor, dass sich das auch nicht richtig anfühlt und dass seine Mutter recht hatte damit, dass ein richtiges Leben hier nicht möglich ist. Aber: wenn nicht hier, wo dann?
Milo befreit sich aus dem Sicherheitsabstand, den David ganz vergessen hat, er hat auch Milo kurz vergessen und er
schämt sich dafür, er ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Milo küsst Davids Hand. Er zieht das alte T-Shirt aus, das er sich vorhin geliehen hat. Auf dem T-Shirt stehen eine Jahreszahl und der Schriftzug eines Baseballteams, das mittlerweile im Ruhestand ist. Sie verlieren sich im Detail, über die Oberkörper ziehen sich Narben, mit dem
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