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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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entgegenschleudern, lassen ihn daran zweifeln, hier zu Hause zu sein. Aber da ist seine Frau, da sitzt sein Sohn, da fehlen nur seine Tochter und ein bisschen Harmonie.
    »Stellt euch vor, wir vier in einem niegelnagelneuen Haus, wir hätten eine Terrasse, einen Garten, einen Carport.«
    »Was soll das sein?«, fragt Jules mit einer Verbrecherstimme.
    »Da kann man sein Auto unterstellen«, sagt Eleni.
    »Genau«, ruft Jeremias viel zu fröhlich, »für das Auto.«
    »Super«, sagt Jules. »Ganz toll.« Jeremias gräbt weiter in seinen Plänen, was haben die noch mal gesagt, was man da oben am Hang noch alles haben kann?
    »Wir hätten ein Hallenbad, gleich nebenan, und einen Fußballplatz, wir wären direkt angebunden an das Schienennetz, wir könnten überallhin, es soll dort oben ein großes Einkaufszentrum geben und Schulen, zwei Kindergärten, drei Kirchen, es soll einen Tiergarten geben, ein ökologisches Schulungszentrum, ein Gartenbaucenter, eine Seilbahn, einen Park mit Bänken und einen Teich, und in dem Teich sollen Mandarinenten schwimmen, das sind diese bunten, und Eisdielen, Eisdielen wird es auch geben und fünfundsiebzig verschiedene Sorten Eis, sogar für Leute mit Lactose-Intoleranz und für Diabetiker. Wir hätten sogar richtig Internet, immer und schnell. Vielleicht gibt es auch eine Schlittschuhbahn oder einen Skatepark, bestimmt bauen sie ein Krankenhaus. Stell dir vor, Jules, so viele Möglichkeiten!« Jeremias legt seine linke Hand auf die seines Sohnes, die rechte auf die seiner Frau, einen Moment lang fehlt Jula nicht, dann doch, die Berührungen fühlen sich an wie ein Lebensende.
    »Was sagt ihr?«, fragt Jeremias. »Das wäre doch besser, als hier in einem entkernten Haus aufs Wasser zu warten. Wenn wir uns schnell entscheiden, können wir noch mitbestimmen, wie es werden soll. Es gibt eine Entschädigung, sagt die Firma, eine gute. Sag mal, Jules, wie groß soll dein Zimmer sein?« Jules zieht seine Hand weg, lehnt sich zurück.
    »Ist mir egal.«
    »Heißt das, du hast nichts dagegen?« Jules schweigt. »Jules!«
    »Mach, was du willst, ich geh dann eh weg.« Jetzt wird Eleni plötzlich wieder lebendig.
    »Wo willst du hin?«
    »Weiß nicht«, sagt Jules. »Weg halt.«
    »Darüber sprechen wir noch mal«, sagt Eleni.
    »Ich bin volljährig.«
    »Trotzdem haben wir da noch ein Wörtchen mitzureden«, sagt Jeremias und hofft auf Elenis Zustimmung, die sitzt äußerst aufrecht, früher hat sie Ballett getanzt. Jules steht auf, geht in Richtung Tür.
    »Wo willst du hin?«, sie können noch gleichzeitig sprechen. Immerhin das, denkt Jeremias.
    »Nach oben«, sagt Jules, und dann ist er weg.
    »Warum kannst du mich dabei nicht unterstützen?«, fragt Jeremias.
    »Wobei?«
    »Dabei, den Kindern das neue Haus schmackhaft zu machen.«
    »Ich will nicht umziehen.«
    »Eleni, du klingst wie ein Kind.«
    »Ich weiß. Aber ich will hier nicht weg. Ich kann nicht.« Jeremias nickt und dabei merkt er, dass er gar keinen Grund dazu hat. Er versteht absolut nicht, was sie meint.
    »Warum eigentlich nicht?«, fragt er. »Was willst du hier noch?«
    »Ich weiß nicht. Aber ich kann einfach nicht –«
    »Was?«, fragt Jeremias viel zu schnell, in den entscheidenden Momenten lässt er sich oft zu wenig Zeit. Eleni sieht auf ihren Teller, dann zum Fenster, im Profil erinnert sie ihn an jemand anderen, an eine andere Eleni vielleicht, eine Eleni von vor vielen Jahren. Er weiß, dass sie ihren Satz nicht mehr beenden wird, er hat es vermasselt, er macht in letzter Zeit wenig richtig. Aber immerhin traut er sich was. Jeremias rutscht bis an die Kante seines Stuhls, näher zu seiner Frau. Sie sieht ihn an, sie sieht ihn tatsächlich an und ausnahmsweise hat sie keinen dieser grauen Schleier über ihren Blick gelegt, Jeremias kann seine Frau erkennen.
    »Was«, fragt Eleni und schluckt, »was ist, wenn wir sie dann verlieren?«
    Er weiß es nicht, aber jetzt versteht er, was sie meint, und kann ihr doch nicht helfen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass alles auseinanderbrechen wird, sie sich nur noch zu Weihnachten begegnen, einander längst fremd geworden, dass da neue Leben entstehen. Sie werden zurückbleiben im schönen neuen Haus mit Blick auf den See, umgeben von der besten Infrastruktur der Welt, mit Mandarinenten ganz in der Nähe, diesen bunten. Sie werden auf Anrufe warten, auf die Lebenszeichen zweier fremd gewordener Menschen. Sie sind nicht die Ersten, die loslassen müssen, aber das macht es nicht

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