Bevor Alles Verschwindet
Zeigefinger fahren sie sie entlang wie eine holprige Straße im Sommer. Darin sind sie sich ähnlich, dass sie es nicht unversehrt bis hierher geschafft haben, egal, die Finger schweben über einem blauen Fleck und dann fahren sie weiter.
Es ist alles einfacher, als er dachte, sie drehen sich umeinander und ineinander, stumm und ohne Gebrauchsanweisung, zuckend und schwitzend und absolut richtig, wenn es das gibt, dann in diesem Moment. »Schlaf gut«, sagt einer von beiden, als der andere schon schläft, und dann zieht er die Decke über sie.
Ein Stockwerk tiefer öffnet Wacho leise die blaue Tür. Seit Anna weg ist, hat er den Raum nicht mehr betreten, das Haus ist groß genug für ein verschlossenes Zimmer, die Traurigkeit muss er nicht auf dem Dachboden lagern, nicht im feuchten Keller und nicht im ewigen Chaos. Sie darf sich in der geheizten Ordnung der Dinge ausbreiten, und da empfängt diese ihn nun, als er den Raum betritt.
Sie hat hier geschrieben, natürlich hat Anna geschrieben, wer sich wegsehnt, der muss schreiben. Sie hat es immer bedauert, so unmusikalisch zu sein. »Mit Musik«, hat sie gesagt, an einem lauwarmen Tag im Mai, »mit Musik kann man überallhin, ohne wissen zu müssen, wo das ist.« Er mochte es, wenn Anna solche Dinge sagte, sie hörten sich gut an, verschwommen und ehrlich. Erst als sie weg war, hat er verstanden, dass die hübschen Worte eine Drohung waren.
Wie auch immer, nun liegt also Mona auf der dürren Matratze und vielleicht sieht Wacho in Mona ein Mittel zum Exorzismus, vielleicht will er auch einfach nur nach dem Rechten
sehen, vielleicht hat Mona auf ihn gewartet, vielleicht wollen die beiden wirklich eng beieinanderliegen und durch das schwielige Fenster in Richtung Mond träumen. Mona riecht nach Abschied und Zwiebeln, Wacho riecht nach Trauer und Schnaps, und die gemeinsame Angst löst zwar keinen Liebeswahn aus, aber ein vages Gefühl von Einigkeit.
»Du weißt nicht zufällig doch, wo Anna hin ist?«, fragt Wacho.
»Leider nein«, sagt Mona. »Sie hat es mir nicht gesagt, sie ist einfach verschwunden, dabei waren wir für den Nachmittag zum Tee verabredet, sie wollte mir die Fotos zeigen, sie hatte gerade wieder ein Album fertig.« Wacho überlegt.
»Du kannst bleiben, bis unser Haus weg ist«, murmelt er.
»Danke«, sagt Mona. »Danke, Martin.«
Mona hört zu, wie Wacho einschläft, sein Atem ruhig wird. Langsam entspannt sich sein Gesicht. Sie selbst schläft nicht, sie denkt nach. Mona denkt verwinkelt und speziell, und was sie denkt, mischt sich mit Traumbildern, die sind von Wacho zu ihr herübergeschwappt. Gedankengewinde und Erinnerungsrudimente können Mona nicht umhauen, sie nicht träge machen, nicht einmal müde. Sie hat es nicht geschafft, die Gelbhelme fernzuhalten, sie hat versagt, so einfach ist das. Sie hat nichts dagegen getan, dass sie ihr das Zuhause nehmen, und nun muss sie gehen, egal, was ihre Mutter ihr sagt. Mona denkt an Spinatgrün, sie ahnt, dass sie mit dem Verlassen des Ortes auch auf die große Liebe verzichtet, aber auch das muss wohl so sein.
Noch bevor Wacho in der Tiefschlafphase ankommt, bevor Mond und Sterne sich aus den Wolken pellen, bevor sie sich fürchten kann, steht sie leise auf und verschwindet aus dem verbotenen Zimmer. Sie schließt lautlos die schwere Haustür hinter sich, auf der weißen Treppe nickt sie diesem Milo zu, der zu David gehört, er streichelt den blauen Fuchs, von dem Marie immer spricht. Mona streicht im Vorbeigehen über
den Kopf des Löwen, steigt über die Trümmer ihres Hauses, greift sich den verbogenen Lenker und zieht eines der Fahrräder hervor. Der Reifen ist platt, Mona schiebt. Sie geht mit erhobenem Kopf, den verschwommenen Blick streng nach vorn gerichtet, es sieht nicht aus wie eine Flucht, aber Mona übertritt jede Grenze, die es hier gibt, sie lässt den Ort zurück und verschwindet im Jenseits der Geographie. Mona macht sich selbst zur Erinnerung. Mona ist weg.
Wacho wacht allein auf, aber mit der Erinnerung an eine Frau, an Mona und wie sie neben ihm liegt. Es wäre seine Aufgabe gewesen, zuerst aufzustehen, ihr die Dusche zu überlassen, Frühstück zu machen, ein Gastgeber zu sein. Andererseits: Er ist kein Hotelier, er ist der Leiter eines winzigen Auffanglagers, das selbst kurz vor der Auflösung steht. Kein Kaffee also, keine Brötchentüte, müde Schritte die Treppe hinunter und dort findet er niemanden, der wartet. Mona ist verschwunden, sie ist nicht im Bad, vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher