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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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vierzig Minuten zu spät.«
    »Vielleicht hat sie sich verirrt.«
    »Verirrt?«, fragte Leigh ungläubig. »Sie steigt an der Haltestelle St. Clair in die U-Bahn und an der Station Finch wieder aus. Wie sollte sie sich da verirren?«
    »Vielleicht hat sie die Haltestelle verpasst. Ihr kennt doch Julia. Manchmal ist sie ganz abwesend.«
    »Julia war in ihrem ganzen Leben noch keinen Moment lang abwesend. Sie weiß immer ganz genau, was sie tut.«
    »Was soll das heißen?«
    »Leigh, warum zeigst du uns nicht dein Kleid?«, schlug ihre Mutter vor.
    »Ja«, sagte Cindy müde. »Mom sagt, es wäre wundervoll.«
    »Mom hat es noch gar nicht gesehen.«
    »Guter Versuch«, flüsterte ihre Mutter, als Leigh sich kopfschüttelnd und vor sich hin murmelnd in die Umkleidekabinen
im hinteren Teil des Ladens verzog. »Du musst mit deiner Schwester reden, Liebes. Sie macht mich wahnsinnig.«
    Cindys Blick fiel auf ihr Abbild in einer Scheibe des dreiteiligen Ankleidespiegels. Erschrocken, aber unfähig, sich abzuwenden, trat sie darauf zu, als wäre sie unvermittelt an einen Unfallort geraten. Wann bin ich so hässlich geworden, fragte sie sich, hypnotisiert von den Falten, die sich um ihre großen Augen und ihren kleinen Mund drängten, und starrte, bis ihre noch zarten Gesichtszüge ganz verschwammen und nur noch die verräterischen Linien des Alters übrig waren. Sie blinzelte auf der Suche nach der jungen Frau, die sie einmal gewesen war, und erinnerte sich, dass sie irgendwann einmal als schön gegolten hatte.
    Wie Julia.
    Wann hatte ihr ein Mann zuletzt gesagt, dass sie schön war, fragte sie sich und stieß einen Stoffballen von dem Stuhl, als sie vor ihrem Spiegelbild zurückwich. Hin und her gerissen zwischen verschiedenen Gefühlen setzte sie sich: Sie war ungeduldig mit ihrer Schwester, wütend über ihre ältere Tochter und neugierig auf Neil Macfarlane. War er wirklich so intelligent, witzig und attraktiv, wie Trish behauptete? Und wenn ja, warum sollte er sich dann für eine 42-jährige Frau mit nicht mehr ganz festen Brüsten und absackendem Hintern interessieren? Ein derartiger Hauptgewinn konnte doch gewiss aus einer beliebigen Zahl perfekter junger Frauen auswählen, die es kaum erwarten konnten, seine Bekanntschaft zu machen. Tom jedenfalls hätte diese Wahl garantiert für beschränkt gehalten.
    Cindy sah auf die Uhr. Schon fast zehn vor fünf. Wenn sie hier fertig und zu Hause war, immer vorausgesetzt, dass sie den Laden einigermaßen fahrtüchtig und nicht komplett irre verließ, blieb ihr gerade noch genug Zeit, sich zu duschen und umzuziehen, von dem Gedanken, sich um etwas Essbares für die Kinder zu kümmern, ganz zu schweigen. Sie seufzte und dachte, dass Heather und Duncan sich eine Pizza bestellen konnten.
Dabei fiel ihr ein, dass Julia erwähnt hatte, dass sie vielleicht mit ihrem Vater zu Abend essen wollte. War sie etwa bei ihm?
    »Tataa!«, verkündete Leigh, zog den Vorhang beiseite und trat in mehrere Quadratmeter rosa Taft gehüllt vor ihre Mutter und ihre erschrockene Schwester.
    Das ist nicht wahr, dachte Cindy, machte den Mund auf, um etwas zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus.
    »Natürlich will ich bis zur Hochzeit noch zehn Pfund abnehmen, damit es hier enger sitzt.« Leigh zerrte an den Falten um Bauch und Hüfte und strich den Taft glatt. »Und was meint ihr?« Sie streckte die Hände in die Luft und drehte sich einmal um die eigene Achse.
    »Das würde ich nicht tun, Schätzchen.« Norma Appleton wies auf die Arme ihrer Tochter.
    »Was?«
    »Deine ›Huhu, Helens‹«, sagte ihre Mutter mit einer Grimasse.
    »Meine was?«
    »Deine ›Huhu, Helens‹«, wiederholte ihre Mutter mit einer viel sagenden Kopfbewegung.
    »Wovon redest du überhaupt? Wovon redet sie?«, wollte Leigh von Cindy wissen.
    »Erinnerst du dich an Tante Molly?«, fragte Cindy zögernd.
    »Natürlich erinnere ich mich an Tante Molly.«
    »Erinnerst du dich an ihre Freundin Helen von gegenüber?«
    »An eine Helen kann ich mich nicht erinnern.«
    »Egal«, fuhr Cindy fort und wappnete sich innerlich schon gegen den Wutanfall, der garantiert folgen würde, »jedenfalls hat Tante Molly jedes Mal, wenn sie Helen gesehen hat, gewunken und gerufen: ›Huhu, Helen. Huhu, Helen.‹ Und dabei hat die Haut an der Unterseite ihrer Arme geschwabbelt, sodass Mom irgendwann angefangen hat, diesen Teil der Arme die ›Huhu, Helens‹ zu nennen.«
    »Was!«

    »Huhu, Helen«, sagte ihre Mutter und winkte einer unsichtbaren Frau

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